Das Jahr der Maus
schwärmt.
Billie.
Mit einer Antwort rechnete sie nicht. Per Post erhielt sie eine Broschüre im Vierfarbendruck über den Fanclub. Sie verspürte weder den Wunsch noch die Notwendigkeit, Mitglied zu werden. Eamon lebte in ihrem Bewußtsein.
Fans sind wie Muscheln an einem Strand; sie tauchen auf, wenn sich die Flut zurückgezogen hat. Als Eamons Ruhm verblaßte, fühlte sich Billie nicht betroffen. Erstaunlicherweise verlor er nichts von seiner Popularität. Jetzt blieb er den Kennern, den Eingeweihten überlassen. Billies Loyalität festigte sich höchstens noch, wenn auch im stillen.
Wegen Eamon zog Billie nach London; um seinetwillen brachte sie den Mut dazu auf. Wahrscheinlich würde sie dort Gleichgesinnte treffen. Sie entdeckte, daß sie Wertvorstellungen besaß, Moralbegriffe, die sie sich von irgendwoher angeeignet hatte. Wie viele Angehörige ihrer Generation rettete sie eine gewisse weltanschauliche Unschuld ins Erwachsenenalter hinüber. Sie trank keinen Alkohol, sie suchte sich harmlose Beschäftigungen; sie lernte töpfern und jobbte in einem Reformhaus.
Manchmal, aus Jux und Tollerei und für ein geringes Entgelt, trat Billie mit einer Band auf. Sie und drei weitere Mädchen humpelten auf einer Bühne herum und kreischten den Leadsänger an. Es war ein Witz. Billie trug ihre alte Strafe-Kluft – auch so ein Scherz. Diese Späße dienten als Schutzmechanismus.
In den schmuddeligen dunklen Korridoren der Clubs lungerten die jungen Leute grüppchenweise herum, lächelten und sagten Entschuldigung. Weil sie über viel Zeit verfügten, gebärdeten sie sich wie Aristokraten. Sie besaßen die Muße, sich ein gewisses Maß an Anstand zu leisten.
Im Kunstunterricht lernte Billie einen Mann kennen, der mit irischem Akzent sprach und kastanienrotes Haar hatte. Er hieß Roy. Eine kurze Zeit lang kampierten sie im Freien unter einer Brücke. Billie mußte sich am Spülstein in einem hinteren Kabuff des Geschäfts waschen und die Adresse ihrer Mutter angeben, damit sie ihren Lohn bekam.
Schließlich fanden sie eine Bude im Osten der Stadt, gute anderthalb Stunden vom Zentrum Londons entfernt. Anfangs wollten sie Geld für eine Übersiedlung nach Irland sparen. Roy war zwar lieb, aber ein Schwächling und maßloser Egoist. Mit dem Leben kam er nicht zurecht. Den ganzen Tag lang hockte er auf dem Fußboden und starrte in die Glotze, verstört und ängstlich. Immer fiel es ihm zu spät ein, daß er Billie eigentlich helfen sollte, schwere Einkaufstaschen zu tragen, das Geschirr zu spülen oder einen Sessel zu verrücken. Als er ihr dann eröffnete, daß er sie verlassen würde, empfand sie zu ihrer Überraschung hauptsächlich Erleichterung. Ihren gemeinsamen Sohn Joey nahm er nicht mit. Zu der Zeit war Joey zwei und Billie zweiundzwanzig Jahre alt. Joeys zweiter Vorname lautete Eamon.
Manches verstand sich von selbst. Billie gab ihre Versuche auf, das Töpfern zu erlernen. Sie lungerte ganze Vormittage auf dem Sozialamt herum, Joey auf dem Schoß wiegend, damit er nicht plärrte. Bevor sie Stütze bekam, mußte sie nachweisen, daß Roy England verlassen hatte. Wie alle anderen, die stempeln gingen, mußte sie einen Fortbildungskursus besuchen, und wie die meisten Arbeitslosen lernte sie den Umgang mit einem Computer. Man brachte ihr bei, wie man mit den gängigen Computerprogrammen umgeht, und das genügte für einen unbezahlten Job bei einer Wohnungsbaugesellschaft. Sie erledigte die Buchführung und die Korrespondenz, und als Gegenleistung durfte sie mietfrei wohnen.
Das Apartment, in dem sie mit ihrem Sohn hauste, hatte drei Zimmer. Im Reformhaus verdiente sei sich ein Zubrot, aber von diesem Nebenjob durfte die Wohnungsbaugesellschaft nichts wissen. Joey wollte sich von ihr nicht mehr anfassen lassen, er wurde aggressiv und quengelig. Wenn sie einkaufen gingen, verlangte er Spielzeug oder Süßigkeiten. Billie war eine von vielen Frauen im Supermarkt, die ein heulendes Kind bändigen mußten.
»Joey, wenn du das noch mal machst, verdresch ich dir den Hintern!«
Gegenüber anderen Kindern verhielt sich ihr angriffslustiger Sohn jedoch schüchtern. Er wollte nicht mit ihnen alleingelassen werden und schlug nach ihr, wenn sie versuchte, ihn in eine Spielgruppe zu bringen. Selbst wenn der alte, ziegelgepflasterte Hof vom Herumtollen der Nachbarskinder widerhallte, sträubte er sich, nach draußen zu gehen.
Manchmal, des nachts, wenn Joey schlief, spürte Billie, wie Gefühle in ihr hochwallten, die
Weitere Kostenlose Bücher