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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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noch Sorgen?« wollte er wissen.
    »Ach, ich sorge mich ständig. Über alles und jedes grüble ich nach.«
    Im Herbst war Joey eingeschult worden, und er konnte sich einfach nicht hineinfinden. In Tränen aufgelöst kam er heim, und wenn sie ihn zur Bushaltestelle brachte, schlug er nach ihr. Sogar als Mutter versage ich, dachte sie. Kein Geld, kein Vater, keine Geschwister. Kein Wunder, daß der arme Kerl verhaltensgestört ist.
    Wenn sie ihn zur Schule begleitet hatte und dann heimkam, schaltete sie den Computer ein.
    Sie sagte Hallo, und Eamon tauchte auf, an irgendeinem neuen Ort. Meistens hatte er gerade ein interessantes Buch gelesen, und sie unterhielt sich mit ihm wie mit einem richtigen Menschen. Und er sprach zu ihr, als würde er sie persönlich kennen. Er erinnerte sich an die Leute in der Wohnungsbaugesellschaft und erkundigte sich nach ihnen.
    Einmal überließ Billie ihren Wohnungsschlüssel einer Nachbarin, die den Computer benutzen wollte. Als die Frau ihr den Schlüssel zurückgab, war er funkelnagelneu und trug einen anderen Firmennamen. Ohne sie zu fragen, hatte sich die Frau einen Nachschlüssel anfertigen lassen und ihr aus Versehen den neuen Schlüssel gegeben. Billie holte sich bei Eamon Rat ein.
    »Soll ich einfach zu ihr hingehen und sagen: ›Sie haben sich einen Nachschlüssel machen lassen. Geben Sie mir bitte das Original zurück!‹ Damit bezeichne ich sie ja als Diebin.«
    »Genau das mußt du aber tun, Billie. Um deiner Selbstachtung willen.«
     
    Des Abends, wenn Joey schlief, gab der Computer simple Sätze von sich wie: »Du siehst geschafft aus, Schätzchen. Mach dir eine Tasse Tee.«
    Damit konnte sie leben. Manche Menschen halten sich Haustiere, pflegte sie sich zu sagen, wenn sie den größten Teil von Joeys Abendbrot in den Abfalleimer kippte. Und Tiere können nicht mal sprechen.
    Wenn sie gutgelaunt war, gab sie dem Ganzen einen ordinären, schnoddrigen Touch. Mein Liebhaber ist ein Computer, erzählte sie imaginären Freundinnen. Wer braucht schon einen Mann? Die Kerle taugen doch alle nichts. Ein Computer kommt wenigstens nicht besoffen nach Hause, man braucht nicht seine schmutzige Wäsche zu waschen und kann mit ihm über alles reden.
    Ein paar herbe Enttäuschungen hatte Billie hinter sich: der Immobilienmakler, der sich einbildete, sein alter BMW mache ihn unwiderstehlich, und ein Musiker, der sich zuerst vollkiffen mußte, ehe er sich wie ein Mensch artikulieren konnte. Die Software ist authentischer, redete sie sich in ihren Selbstgesprächen ein.
    Aber in Wahrheit war sie einsam. In Billies Leben ereignete sich so gut wie nie etwas. Ein Jahr verging wie im Flug. Zu Weihnachten wünschte sich Joey Computerspiele.
     
    SAG BITTE HALLO.
     
    »Hallo«, wisperte sie dann. Sie mochte nicht zusehen, wenn sich das Bild auf dem Monitor formierte. Deshalb betrachtete sie sich in ihrem Schlafzimmerspiegel. Sie sah immer noch recht gut aus, trotz des Doppelkinns und den dunklen Ringen unter den Augen.
    Es war ein verhangener Tag im Februar. Auf dem Küchentisch bildete Joeys Frühstücksmüsli harte Krusten in der kleinen blauen Schüssel.
    Sie hörte Meeresgeräusche, das Donnern einer Brandung und kreischende Möwen.
    »Hallo?« meldete sich Eamon. »Juhu!«
    Billie drehte sich zu ihm um, erwiderte jedoch nichts.
    »Ich möchte dir kein Gespräch aufzwingen«, meinte er. Hinter ihm erstreckte sich weißer Sand, der Wind peitschte das braune Gras zu Wogen auf und spielte mit seinem Haar. Plötzlich wünschte sich Billie, sie wäre am Meer. Ob der Computer das wußte? Konnte er ihre geheimsten Sehnsüchte erraten? Eamon sah sie lächelnd an und wartete darauf, daß sie etwas sagte. Das Computerauge, eine winzige Glaskugel am oberen Rand des Monitors, stierte sie an.
    »Wo bist du?« fragte sie ihn.
    »Am Meer.« Seine sonst so milchweißen Wangen waren gerötet.
    Sie verdrehte die Augen. »Das hätte ich mir fast gedacht. Ich meine, bist du in Irland?«
    »Hmm.«
    Aus irgendeinem Grund gab der Computer keine exakten Ortsangaben mehr.
    »Glaubst du im Ernst, ich würde lossausen und versuchen, einen Mann zu finden, der mich nicht mal kennt?«
    Er schloß die Augen. »Fängst du schon wieder damit an?«
    »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie frustrierend das ist? Ich hocke hier und höre dir zu. Ich berate dich, wenn du an einem neuen Song arbeitest. Ich erzähle dir aus meinem Leben, als ob du ein richtiger Mensch wärst, aber wenn ich dann den Kasten ausschalte, bleibt mir

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