Das Jahr der Maus

Pfählen.
    Jetzt war Billie genauso unsichtbar wie eine Nachricht in einer Telefonleitung.
    Vor Aufregung schlotternd hetzte sie los, sich in fast vollständiger Finsternis unter Balken hindurchduckend. Nur wenn sie unter einem Mittelgang entlangflitzte, sickerte ein wenig Licht durch die Lücken zwischen den einzelnen Stufen. Sonst sprenkelten lediglich vereinzelte helle Linien den Boden, wo die darüberliegenden rohen Bretter sich nicht dicht genug aneinanderfügten. Die ganze Zeit über hörte sie die Stimme, in einem gespenstischen, näselnden Gesang, wie wenn der Text auf japanisch wäre.
    Billie erreichte das Ende der Tribüne, das mit Sperrholzplatten verbarrikadiert war. Droben, bei den obersten Sitzreihen, gab es einen nicht abgesperrten Bereich.
    Also kletterte Billie wieder hinauf. Auf dem Scheitelpunkt angelangt, spähte sie durch eine dreieckige Öffnung wie aus einem Giebelfenster.
    Eamon sprach; er erzählte eine Geschichte.
    »… berühmten Großmeister treffen, während er auf einem öffentlichen Platz seine Übungen vollführt. Also ging ich hin. Ich dachte mir: Da ich hier der einzige Europäer bin, wird er mich schon bemerken …«
    Von ihrem jetzigen Standpunkt aus strahlte er genauso grell, und Billie erkannte, warum: Er wurde von einem gleitenden Lichtstrahl von unten her beleuchtet. Er mußte direkt über Scheinwerfern stehen. Offenbar verbarg sich in der Pyramide eine komplizierte Technik.
    Die blaue Wand reichte von der Tribüne bis zu der ersten grauen Stufe des Zikkurats und klebte daran wie feuchter, frischer Lippenstift. Unter Billie gähnte ein zehn Fuß tiefes Loch, dann kamen die silberglänzenden Absperrungen, und zu ihrer Rechten war in der Betonmauer eine Tür eingelassen. Jeden Augenblick konnte jemand hindurchtreten.
    Ihr Weg war blockiert von kruzifixähnlichen Verstrebungen. Sie kraxelte hin, kauerte sich mit dem Rücken gegen den Längsbalken, winkelte die Beine an und schwenkte sie herum. Keine Zeit zum Nachdenken, Billie, und nach unten brauchst du gar nicht erst zu gucken.
    Ihre Beine baumelten frei in der Luft. Ihr ganzes Gewicht auf die Hände verlagernd, ließ sie sich der Länge nach auf dem Balken nieder. Sie hatte gedacht, sie könnte sich von hier oben weiter nach unten hangeln. Aber sie wußte nicht, wie sie ihre Position jetzt ändern konnte, ohne sich schwere Schürfwunden zuzuziehen. Außerdem traute sie ihren eigenen Kräften nicht. Vor Angst krampfte sich ihr Magen zusammen, sie spürte dieses Flattern, das einen befällt, wenn man in einer Felswand festsetzt oder von einem Baum nicht mehr herunterklettern kann. Doch für Anwandlungen von Panik hatte sie jetzt keine Zeit.
    »Der Großmeister hatte nämlich darauf gewartet, daß ich auf ihn zuginge.«
    Ich bin schon unterwegs zu dir, Eamon. Billie stieß sich von der Strebe ab und ließ los.
    Ihre Eingeweide schienen sich nach außen zu stülpen. Sie prallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes – es klirrte, das war die metallene Absperrung – und landete seitlich auf Hüfte und Schulter. Durch den Schwung rollte sie noch ein Stück weit, bis ihre Füße neben ihrem Gesicht zu liegen kamen.
    Steh auf, Billie, steh auf, steh auf! Mit einem Ruck rappelte sie sich hoch. Die Schulter schmerzte, der Overall mußte am Rücken völlig verdreckt sein; sie tastete den Hinterkopf nach Blut ab. Ihre Finger faßten in etwas Klebriges; es war Blut, stammte es vielleicht von der Bißwunde an ihrer Hand?
    Sie rannte los, sich im Laufen mit den Fingern durch das Haar kämmend, um eine Verletzung zu kaschieren. Krampfhaft versuchte sie, eine nüchterne, unbeteiligte Miene aufzusetzen; sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei sie betrunken.
    Ich komme von Stevens Arts, sagte sie sich vor. Ich soll hier die Bildqualität auf den Monitoren prüfen. Vor ihr stand ein Wachmann, die Hände in die Hüften gestemmt, und beobachtete das Publikum. Billie sah seinen Fettwulst über dem Hosenbund, wo sich das Hemd spannte. So lange er ihr den Rücken zukehrte, schlug sie ein forsches Tempo an, bemüht, wie eine Geschäftsfrau auszusehen, die sich verspätet hat.
    Der Mann peilte über die Schulter; sie verlangsamte den Schritt. Als er sich zu ihr umdrehte, nickte sie ihm lächelnd zu. Ganz in der Nähe befand sich die Tür, und sie fixierte die runde, schwarze Sicherheitsanlage. Mußte man einen Zahlen- oder Buchstabencode eingeben?
    »Ich komme von Stevens«, rief sie, die Zahlen betrachtend und sich innerlich sammelnd. Sollte sie