Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
biß zu. Ein stechender Schmerz zuckte ihren Arm hinauf. Sie nahm die Hand aus dem Mund und schaute sich die Blessur an.
    Es war eine tiefe, blutende Wunde, gleich unter dem Daumen ihrer rechten Hand.
    Ach, Billie, du blöde Kuh, was hast du jetzt wieder angestellt?
    Das Blut lief ihr Handgelenk hinunter und tropfte auf den Jumpsuit. Es perlte über das Programmheft aus weißem Glanzpapier und besudelte ein Bild von Eamon Strafe.
    Die Hand hochhaltend, flüsterte sie der Familie zu: »Haben Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?«
    Die Leute wirkten wie vom Donner gerührt. An Billies Gekreische und der folgenden Reaktion hatten sie gemerkt, daß sie noch schwerer heimgesucht war als sie selbst. Mit der Vorsicht, die jeden Laut um so auffallender macht, kramte die Frau in ihrer Tasche nach einem Papiertuch. Der Verschluß der Tasche klackte, das Plastikpäckchen knisterte. Über ihren Köpfen schwappten die Schallwellen aus zwei sich überkreuzenden Richtungen auf sie ein, Geräuschquelle und Echo. Die Musik ging verloren, der Rhythmus war gestört, die Worte verhallten. Billie drückte das Tuch gegen die Wunde.
    »Behalten Sie das ganze Päckchen«, wisperte die Frau.
    Billie schloß die Augen und merkte, daß sich das Bild von Eamon Strafe in ihre Netzhaut gebrannt hatte. Sie sah seine klar umrissene, purpurrote Silhouette mit einem glühenden gelben Punkt in der Mitte. Ihr Daumen tat schrecklich weh.
    Sie machte die Augen wieder auf und betrachtete Eamons Abbild auf dem Monitor. Mehr bekam sie ohnehin nicht von ihm mit. Es war genauso wie bei ihr zu Hause. Eamon war nicht besser oder schlechter oder irgendwie anders als sonst. Sie kam sich vor wie Alice im Wunderland, die plötzlich feststellt, daß sie schrumpft. Auf den ersten Song folgte der zweite. Was hatte sie anderes erwartet? Ein Feuerwerk? Die Musik kam ihr vage bekannt vor. Es dauerte eine Weile, bis sie den Titel ›Demokratie des Geldes‹ erkannte, seine dritte Single, als er noch jung und unverbraucht war und man ihn als den letzten Popstar feierte. Der Song erreichte die Nummer neun der Charts und rutschte dann langsam ab, Eamon mit sich reißend.
    Es war jedoch nicht Eamon, den sie singen hörte, es waren die Leute ringsum, die mitsummten wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm und die Musik zusammenhielten. Es ist nicht dein Auftritt, Eamon, sondern unser.
     
    Wer ist die Macht auf dieser Welt?
    Wer die Instanz, die Entscheidungen fällt?
    Das Volk? Die Regierung? Die Demokratie?
    Ich sage euch: Es ist das Geld!
     
    Ihr Eamon hatte recht gehabt. Ihr Eamon war genauso real wie alles andere an diesem Konzert. Meine Hand blutet, dachte sie, und der Platz, für den ich soviel blechen mußte, ist Scheiße! Mit so etwas gebe ich mich nicht zufrieden.
    Zuerst wollte sie wirklich nur weggehen, ihren Groll abreagieren, sich nach Hause flüchten. »Entschuldigung«, sagte sie zu den College-Studenten, die rechts von ihr saßen. Sie stand auf und zwängte sich vor ihnen durch die engen Reihen. »Entschuldigung, Entschuldigung.« Sie trat den Leuten auf die Füße und erntete ärgerliches Zungenschnalzen. Konnten sie denn nicht sehen, daß sie rauswollte? »Entschuldigung.« Wie damals in den Clubs, als sie noch jung war und ihr nichts anderes einfiel. »Entschuldigung.«
    Mit der angestauten Kraft eines ganzen Lebens drängte sie sich an den Menschen vorbei. Absichtlich ließ sie das Blut über sie tropfen. Das ist ein Stigma, erklärte sie ihnen in Gedanken. Ihr alle seid gezeichnet. Endlich schaffte sie den Durchbruch zu einem Mittelgang und polterte die Treppe hinunter, bis ein Ordner sie abfing. ›Hush Hush‹ stand auf einem Abzeichen an seiner Schulter.
    »Ich habe mich geschnitten. Gibt es hier irgendwo einen Erste-Hilfe-Kasten?« fragte sie den Mann.
    Großer Gott! Gerade begann ›Basic Blues‹. Wenigstens das bliebe ihr erspart.
    Der Ordner war fett, eigentlich zu alt für den Job und klimperte nervös mit einem Schlüsselbund in seiner Tasche. Er begleitete sie zu Tor M, paßte auf, daß sie hinausging und riet ihr, zum Trailer bei Tor A zu gehen. Dazu mußte sie wieder die Marktstraße mit den Ständen passieren. Die Verkäuferinnen von Billings Naturkost polierten den Tresen und unterhielten sich dabei, trotz der Musik, die zu ihnen herüberdriftete. Am Tor A stand ein weißer Trailer.
    Drinnen hatte man einen winzigen Aufenthaltsraum für den Ordnungsdienst eingerichtet. Auf einem Tischchen lag ein Magazin mit dem Titel Fahrzeuge mit

Weitere Kostenlose Bücher