Das Jahr der Maus
Arena beängstigend stickig.
Eine Familie kämpfte sich auf ihre Plätze durch, die gleich neben dem ihren lagen. Sie hatten sich mit Thermosflaschen voller Kaffee und Limonade ausgerüstet und wickelten nun ein ganzes gebratenes Hühnchen aus. Der Mann trug einen grauen, struppigen Bart, und seine Frau glich einem farblosen, nahezu ausgewässerten Wesen. Ihr Kind, ein Gör unbestimmbaren Geschlechts, gab keinen Muckser von sich und schien das zu sein, was man unter artig versteht.
»Wir haben tolle Plätze erwischt, finden Sie nicht auch?« sprach Billie ihre Sitznachbarn an. Vor Zorn war sie ganz zappelig. »Die sind glatt ihre dreißig Pfund wert.«
»Schlecht sind sie nicht«, erwiderte der Mann.
»Wir hatten großes Glück, überhaupt noch Karten zu bekommen«, mischte sich die Frau ein. »Ich dachte schon, es würde nicht mehr klappen, und das hätte mich wirklich gefuchst.«
Das Kind nuckelte an dem leeren gelben Becher von der Thermosflasche. Seid ihr frei? fragte sich Billie. Habt ihr euch nicht anstecken lassen?
»Schwärmst du auch für Eamon?« wandte sich Billie an das Kind.
»Ja«, antwortete es teilnahmslos und starrte in den leeren Becher, anstatt sie anzusehen. Es war ein Junge.
»Unsere ganze Familie ist verrückt nach Eamon«, erklärte der Vater. »Wir besitzen alles, was er je veröffentlicht hat, nicht wahr, Pat? Es kam vor, daß wir beide jeder dieselbe Platte kauften, wenn wir uns nicht abgesprochen hatten.«
Wir sind so viele, dachte Billie. Eine Frau vor ihnen drehte sich um und sah sie an. Billie erkannte den verlorenen Ausdruck. Es war, als blicke sie in einen Spiegel.
Endlich bekam der Junge seine Limonade.
Ob ich Joey hätte mitbringen sollen? Ich kam gar nicht auf den Gedanken, ihn zu fragen. Er muß ja glauben, daß ich ihn nicht dabeihaben wollte.
Liebe ich meinen Sohn überhaupt? Es war schrecklich, daß sie sich diese Frage überhaupt stellen mußte. Doch es gab noch viel schlimmere Fragen, wie zum Beispiel die, ob Joey sie liebte. Ich habe ihn in eine Schublade gesteckt wie meinen Küchenkram. Er wird heranwachsen, weggehen und nie wiederkommen. Mein Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern.
Wegen Eamon Strafe.
Unvermittelt eröffnete ein Streichquartett die knappe Einleitung zu ›Ein Fischessen in Memison‹.
Eine Art Seufzer wogte durch die Menge, und in der sich darauf herniedersenkenden Stille trippelten die Nachzügler so leise wie möglich zu ihren Plätzen. Das Streichquartett spielte live; die Musiker saßen auf einem separatem Podium, durch das halbe Stadion von der Bühne getrennt, auf der Eamon erscheinen sollte. Hinter einer blauen Wand türmten sich hausgroße, schwarze Lautsprecher.
Zu beiden Seiten der Hauptbühne ragten riesige Bildschirme auf; sie erwachten zum Leben wie ihr Monitor daheim, indem sich das Bild von oben nach unten entrollte.
Und da war er, sie alle mit seinem berühmten Lächeln beglückend – Eamon Strafe.
Etwas wie ein Brausen erscholl, die Lichter wurden langsam ausgeblendet, das Bild auf den bombastischen Monitoren verschwand, und er betrat die Bühne. Er stellte sich in den Scheinwerferkegel, unverkennbar, selbst aus einer Meile Entfernung, winzig, blendendweiß. Es herrschte eine Totenstille, als Billie und alle anderen sich von ihren Plätzen erhoben.
Kein Beifall, absolut kein Laut war zu hören; das Publikum war wie in ehrfürchtigem Schweigen erstarrt. Er war es wirklich – Eamon.
Die Art, wie er sich bewegte, drückte Einsamkeit aus. Sein Gang sagte: Es gibt nur wenige Menschen, die so sind wie ich.
Es hat mich viele Kämpfe gekostet, um zu dem Menschen zu werden, der ich heute bin, und keiner hat mir geholfen. Das alles vermochte seine Gestik auszudrücken.
Sein Gesicht konnte Billie nicht sehen. Es war ein heller, verschwommener Fleck, überstrahlt vom Glast der Scheinwerfer. Seine Kleidung, seine Schuhe, alles war umflort von einer Aura aus Licht. Nur auf den Bildschirmen ließen sich seine Züge deutlich ausmachen. Dort sahen sie ihn, wie sie ihn seit jeher kannten, ihren Eamon, lässig, mit seinem schiefen Lächeln, unglaublich vertraut.
Übergangslos begann er zu singen.
Billie hörte sich kreischen. Es war ein Schrei der Erleichterung, der Erlösung von einer langen Qual. Sie war die einzige, die sich so gehenließ – bei einem Eamon Strafe-Konzert wurde nicht geschrien. Man hörte andächtig zu, es durfte höchstens geweint werden. Sie stopfte sich eine Hand in den Mund, setzte sich wieder hin und
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