Das Jahr der Maus
Erleichterung nimmt Amber die Neuigkeit zur Kenntnis, die sie vor wenigen Monaten noch völlig aus der Bahn geworfen hätte. Sie ein Bio, warum auch nicht. Sie ist Huang dankbar, daß er ihr unaufgefordert die Wahrheit gesagt hat. Was nicht weiter erstaunlich ist, da sie sich ihm von Anfang an verbunden fühlte. Die Nähe und Vertrautheit hatte möglicherweise damit zu tun, daß sie denselben Ursprung haben. Eine dieser Fabriken, die sie nun besuchen wird.
Huang öffnet die Tür, wirft einen besorgten Blick zu Amber: »Wie fühlst du dich?«
»Besser als erwartet, danke, ich schätze deine Ehrlichkeit.«
Huang springt erleichtert aus dem Auto, öffnet die Hintertür für die Schwedin und die Somalierin. Leda steigt einer Königin gleich aus ihrem edlen Gefährt, sie schiebt ein langes Bein heraus, dann das andere, stellt sich hin, streift ihren Rock glatt. Galant hält sie Aicha die Hand hin.
Auf dem Parkplatz riecht es nach Eukalyptusbäumen, dieser bitter-ölige Geruch, der bei Amber oft Kopfschmerzen auslöst. Vor dem Haupteingang von GBT, den die drei Frauen nach wenigen Schritten erreichen, steht ein beiges Elektromobil bereit.
Huang ist beim Auto geblieben, da er innerhalb der Fertigungsanlage als Bio nicht zugelassen ist. Ein ungeschriebenes Gesetz, das Amber in Erinnerung ruft, daß auch die Geishas sich nicht an die internationalen Regelungen halten. Wenn sie Leda danach fragte, würde sie bestimmt mit einer Notlüge ausweichen. Daß Dienstpersonal nicht in als geheim eingestufte Räume zugelassen ist.
Als Zudiener und Untergebene sind die Bios geduldet, weil sie schlecht bezahlte Arbeiten in Bereichen übernehmen, für die sich die Menschen zu schade sind. Die Bios haben genau die Rechte und Freiheiten, damit sie die ihnen übertragenen Arbeiten ohne Behinderungen termingerecht ausführen können. Selbst in der Thai-Union sind sie keine freien Wesen. Dies schmerzt mit der neuen Erkenntnis über ihre eigene Herkunft umso mehr.
Amber ist in der Fabrik ausschließlich zugelassen, weil sie von der Chefin höchstpersönlich eingeladen ist. Leda’s Einverständnis kommt in Newbang einem allgemeinen Freipaß gleich.
Amber hat sich bisher mit der Selbstverständlichkeit einer unabhängigen freien Frau bewegt. Deshalb wurde sie bisher nie DNA-gecheckt. Mit dem HanNet-Ausweis umgab sie zudem eine nicht zu unterschätzende Immunität. Die wird der Vergangenheit angehören, sobald sie ihre Kündigung abgeschickt hat. Ob sie dazu bereit ist? Vogelfrei, als einzige Verbündete Sifu, Joni und Huang, hinter dem eine Biogruppierung steht, deren Macht sie nicht im geringsten einschätzen kann. Es ist zu hoffen, daß sie mehr als eine einfache Guerillatruppe sind. Ein beklemmendes Gefühl befällt ihren Magen.
Leda hält am Tor ihre rechte Hand auf den Sensor. Die Schiebetür, die mit einer abstrahierten Doppelhelix verziert ist, öffnet sich lautlos, das Elektromobil surrt in einen langen klimatisierten Gang, der zu beiden Seiten von unzähligen Türen gesäumt ist.
Aicha sieht Amber erwartungsvoll an, auch sie scheint zum ersten Mal dieses Gebäude von innen zu sehen. Leda weist mit Stolz darauf hin, daß in dieser Produktionseinheit alle Fertigungsvorgänge voll automatisiert wurden. Das verhindert nebenbei auch die ärgerlichen Vorkommnisse von Werkspionage durch eingeschleuste Agenten.
Bis jetzt, denkt Amber, denn sie hat die in ihr Handy eingebaute Minicam aktiviert, seit sie aus dem Chevy ausgestiegen ist. Wer weiß, was auf sie zukommen wird? In ihrem Beruf gilt es, optimal vorbereitet an neue Informationen heranzutreten. Gerade jetzt, wo sie an einer Weggabelung steht und nicht weiß, in welche Richtung sie sich fortbewegen wird.
Was sie im Innern des Gebäudes zu sehen bekommt, sind unzählige klinisch saubere Räume hinter bruchsicheren Scheiben, die mit Schränken, Behältern und Tanks vollgestellt sind. Gelegentlich begegnen sie einem Roboter, der die Abläufe in den automatisch gesteuerten Labors betreut, beaufsichtigt und bei Bedarf korrigiert.
In den Räumen herrschen die Farben Weiß und Grau vor; das Licht stammt von grünlichen Leuchtstoffröhren, da das Gebäude keine Fenster zur Außenseite hin hat. Die verwendeten Bau- und Ausstattungsmaterialien sind Leichtmetall, Syntech und andere Kunststoffe. Billiges Material, das im Falle eines Erdbebens schnell zu ersetzen ist.
Amber ist enttäuscht, daß sie während der ganzen Führung keine Embryonen oder Säuglinge in Nährlösung zu sehen
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