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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Bibliothek, Sifus Allerheiligstem.
    »Ich kenne seine wahre Identität nicht. Der Besucher war kein Nullachtfünfzehnmodell. Humanoides Äußeres, anatomisch vorzüglich programmiert. Er bewegte sich ohne Interferenzen, was auf eine starke Konsole schließen läßt. Er war ganz in Weiß gekleidet, trug schwarze Gamaschen und ein schwarzes Band, das seine langen Haare zurückhielt. Es war einer meiner Sorte und kein Avatar. Er sprach Mandarin, beste Umgangsformen und souveräne Sprachkenntnisse, seine Originalsprache höchstwahrscheinlich. Er hat nicht versucht, in meine Datenbank zu gelangen, obwohl ich anfangs annahm, daß er nur mit mir redete, um mich zu beschäftigen und sich hinter meinem Rücken als Pirat zu betätigen.«
    »Sifu, worüber habt ihr gesprochen?«
    »Der Besucher hat mein Haus gelobt und mir auch sonst viel Honig ums Maul geschmiert. Es war einfach Small talk auf einer sehr kultivierten Ebene mit einer Menge Floskeln und literarischen Anspielungen. Einige Sätze waren übrigens sehr mysteriös und kryptisch.«
    »Hast du ein Angebot bekommen? Hat er versucht, dich anzuwerben?«
    »Nicht direkt, Amber. Er hat bloß angedeutet, daß er mich gelegentlich wieder besuchen wird. Dann ist er verschwunden.«
    Amber hört klappernde Schritte, die sich der Bibliothek nähern. Sifu lächelt väterlich: »Oh, ich habe jemanden, den ich dir vorstellen möchte.«
    Amber dreht sich um und kippt fast aus den Schuhen: Vor ihr steht das silberhäutige Alienmädchen, das ihr im Traum begegnet und damals vom Ufo abgeholt worden ist. Ihre schräggestellten Augen funkeln enigmatisch, der schmale Mund verzieht sich zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein soll.
    Sifu nimmt sie bei der Hand: »Das ist Joni, sie ist mir eine große Hilfe.«
    Amber nickt Joni zu, sie bringt kein Wort heraus.
    »Joni hat den Besucher durchleuchtet und wird mir in Kürze mitteilen können, woher er kommt. Datenports, von denen aus man ins Netz gelangt, hinterlassen Spuren. Zudem ist jedes System und jedes Programm heute so einzigartig gestaltet wie ein Fingerabdruck oder ein DNA-Muster. Joni wird Detektivin spielen und dem Unbekannten auf die Spur kommen.«
    Amber fragt nach neu eingetroffenen Mails – vom Mars ist soeben eines angekommen – und verabschiedet sich von Sifu und seiner kleinen Tochter.
     
    Message 36, top encrypted 564Y+a6549:
    Trans: american-deutsch
    From [email protected] Sep 28 04:07 MT 2073
    To: [email protected]/5.singa
    Subject: Re: blondy
     
    Hey Gemini, Deine Überraschung hat mir beinahe den verstand gekostet. Ich hatte das Gefühl, über eine Kante zu fallen. Wäre der Mars eine Platte, wäre ich wahrscheinlich wirklich gefallen, aber ich bin ein Glückspilz und habe mich wieder gefangen. Ich bin noch da und mache das, was ich mag und muß, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten (hoffentlich).
    Hier ist es schweinekalt. Manchmal scheint es mir, diese eisigen ultravioletten Nächte, die nur vorsichtig in eine purpurne Dämmerung kippen, enden nie mehr.
    Die Crew, die mich umgibt, erscheint mir mit jedem Tag verdächtiger. Alle, die ich bisher unter der Dusche gesehen habe – und wir habe nur eine Dusche, also sind Männlein und Weiblein da drin gemischt –, tragen auf dem Oberkörper eine Drachentätowierung. Wenn ich jemanden danach frage, weicht er aus. Ob die einer chinesischen Sekte oder einem Arm der Triade [11] angehören?
    Ich muß arbeiten gehen, ich bin sowieso spät dran. Ich hoffe, ich überlebe diese Mission und komme heil zur Erde zurück. Zu viele seltsame Dinge sind geschehen, um nicht beunruhigt zu sein. Als wären wir der Astrobehörde in Bator völlig egal.
    Schick Blondy wieder vorbei, Dein Glimmerstein ist auf dem Weg zur Erde. xxx Nel
     
    Amber streift die Datenbrille vom Kopf und kramt in ihrem Rucksack nach ihrer Perez-Sonnenbrille. Dahinter fühlt sie sich weniger beobachtet und in Sicherheit, sie braucht nun einige Minuten, um sich zu sammeln. Das Auto fährt mit großer Geschwindigkeit die sanft gewundene Küstenstraße entlang. Das Meer kräuselt sich und überschlägt sich in schaumigen Wellen, ideales Surfwetter.
    Huang hat den Videocom angestellt – Ginger Candy in einem goldenen Stringbikini singt zu Streichermusik von Cyberlovern – und ißt genüßlich eine gefüllte Teigtasche. Er blickt zu Amber hinüber und spricht mit vollem Mund: »Schlechte Nachrichten?«
    »Wie kommst du darauf?«
    Huang schluckt den Bissen hinunter: »Als du im Space warst,

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