Das Jahr der stillen Sonne
Sattelschleppern, Möbelstücken, Pflastersteinen, Bauschutt, Sandsäcken, Holz, Ziegeln, Beton, Müll – und zwei Leichen, die an der Ashland Street eingemauert worden waren. Sie war in der Nacht zum 29. Juli 1980 errichtet worden, als die Straßenkämpfe in der Cermak Road seit drei Nächten tobten; sie war Nacht für Nacht verlängert und verstärkt worden, bis sie eine zwanzig Kilometer lange Barrikade quer durch Chicago bildete.
Die Neger des Stadtviertels südlich der Cermak Road hatten begonnen, die Mauer auf dem Höhepunkt der Straßenkämpfe zu errichten, um Polizeifahrzeuge an der Durchfahrt zu hindern. Schwarze und weiße Extremisten hatten sie fertiggebaut. Die Leichen an der Ashland Street waren zwei Männer gewesen, die leichtsinnigerweise versucht hatten, über die Mauer zu klettern.
Es gab keinen Verkehr durch die Mauer oder auf den großen Nord-Süd-Verbindungen, die über die Cermak Road hinweggeführt hatten. Der Ryan Expressway war bei der 35th Street und nochmals an der 63rd Street gesprengt worden; der Stevenson Expressway war an der Pulaski Road unterbrochen. Luftaufklärung zeigte, daß fast alle größeren Straßen dieses Gebiets blockiert oder sonstwie unbenutzbar waren. In South Halsted wütete ein Großfeuer, das niemand löschte, und Vieh aus den Schlachthöfen irrte durch die Straßen. Polizisten und Soldaten patrouillierten durch das Gebiet nördlich der Mauer; die schwarze Bürgerwehr kontrollierte das Gebiet südlich davon.
Die Regierung machte keinen Versuch, die Mauer stürmen zu lassen, sondern schien die weitere Entwicklung abwarten zu wollen. Der Verkehr aus Osten und Süden wurde in weitem Bogen um das Sperrgebiet geführt und kam von Westen her in die Stadt. An der Grenze nach Indiana und der Interstate Highway 80 wurden Straßensperren errichtet.
Im Chicago nördlich der Mauer wurden 304 Tote und über 2000 Verletzte gezählt, als die Straßenkämpfe aufhörten. Niemand wußte, wie hoch die Zahl der Toten und Verwundeten im Sperrgebiet war.
In der zweiten Augustwoche hatten Truppen an den Grenzen dieses Gebiets Stellung bezogen. Die Soldaten ließen nur Personen mit Sonderausweisen passieren und nur weiße Flüchtlinge aus dem Getto heraus. Nach ersten Berichten handelte es sich dabei um etwa 600 000 Weiße, obwohl vor Ausbruch der Revolution wesentlich mehr Weiße in diesen Stadtvierteln gelebt hatten. Täglich wurden neue – und zumeist erfolglose – Versuche unternommen, weiße Familien zu retten, die noch im Sperrgebiet leben sollten. Von Norden her war ein Eindringen unmöglich, aber von Westen und Süden aus drangen Suchmannschaften gelegentlich bis zum Midway Airport vor. Die Flüchtlinge wurden nach Illinois und Indiana evakuiert.
Nordchicago stand unter Kriegsrecht. Für dieses Gebiet galt eine strikte nächtliche Ausgangssperre. Wer sich nachts auf der Straße bewegte, wurde ohne Anruf erschossen und erst am nächsten Morgen identifiziert, wenn die Leichen eingesammelt wurden. In Südchicago gab es keine Ausgangssperre, aber dort wurde Tag und Nacht geschossen.
Ende Oktober, eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen, war es im Norden der Stadt verhältnismäßig ruhig. Über die Mauer wurde kaum noch geschossen, und die Belagerungstruppen hatten den Befehl erhalten, nur zu schießen, wenn sie angegriffen wurden. Das Sperrgebiet wurde weiter mit Wasser versorgt, aber es erhielt nur noch wenige Stunden täglich Strom.
Am Sonntag morgen vor der Wahl waren etwa zweihundert unbewaffnete Schwarze mit erhobenen Armen vor den Stellungen an der Cicero Avenue erschienen und hatten um Asyl gebeten. Sie waren abgewiesen worden. Washington gab bekannt, der Belagerungszustand bestehe nach wie vor. Hunger und Krankheit sollten die Mauer zerstören.
Chaney ging durch den Saal zum Zeitungsstand.
Die Donnerstagausgaben bestätigten ihre Voraussagen vom Mittwoch: Präsident Meeks hatte den größten Triumph seiner politischen Laufbahn gefeiert und nur in drei Staaten nicht die absolute Mehrheit errungen. In einem Leitartikel hieß es, dieser Sieg des Präsidenten sei ›wegen seiner meisterhaften Lösung des Chicagoer Problems‹ wohl verdient.
Brian Chaney verließ die Bibliothek und blieb in der blassen Novembersonne auf der Treppe stehen. Er war unsicher und verwirrt – er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Ein Streifenwagen mit zwei Bewaffneten fuhr auf der Straße vorbei.
Chaney wußte, warum die beiden ihn anstarrten.
10
Er schlenderte ziellos durch
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