Das Jahr der Woelfe
tote Stadt.
»In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen«, zitterte er.
Spät fanden sie das Haus. Vater atmete auf, als er es unzerstört fand. Er klingelte. Schritte schlurften über den Flur. Licht flammte auf und drängte sich durch die Türritzen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür öffnete sich.
»Ja, was gibt es so spät!« Ein großer, grauhaariger Mann stand vor ihnen.
»Georg?«, sagte Vater unsicher.
»Johannes! Bruder!«, rief der Mann, fasste Vaters Arm und zog ihn ans Licht.
»Bärbel«, schrie er in den Flur, »Bärbel! Mein Bruder Johannes!«
»Wir haben noch jemand mitgebracht«, sagte Vater und schob Hubertus in das Licht.
Der starke, graue Mann begann zu zittern. Er nahm seinen Sohn in die Arme.
»Hubertus!«, rief Tante Bärbel. Sie hatte ihren Sohn sofort erkannt und eilte herzu. Die Bienmanns standen vor der Tür und freuten sich mit.
Dann wandte sich Hubertus um und sagte: »Kommt. Ihr seid jetzt hier zu Hause.«
Die Bienmanns aus Leschinen waren die Einzigen aus der großen Familie, die es geschafft hatten, sich zum vereinbarten Treffpunkt Berlin durchzuschlagen.
»Was mag aus den anderen geworden sein?«, fragte Onkel Georg. »Ob Thomas seine Werkstatt rechtzeitig verlassen hat? Ob Grete und die Kinder noch leben? Ob Katharina durchgekommen ist?«
»Wisst ihr noch, wie wir bei der Goldhochzeit der Eltern noch alle fröhlich gefeiert haben? Vierunddreißig Bienmanns in einem Haus, hat Mutter stolz gesagt.«
Lange saßen sie am Abend noch beisammen. Onkel Georg entkorkte eine Flasche Schnaps, die er über die Jahre hin gerettet und aufbewahrt hatte, und sie erzählten von vergangenen Tagen und vergaßen für ein paar Stunden die schlimme Zeit.
Es zeigte sich in den nächsten Wochen, dass für so viele Leute eine Arbeiterwohnung in Berlin-Wedding nicht ausreichte. Auch brauchte niemand in einer großen Stadt einen Bauern. Bienmanns kamen zu dem Entschluss, nach Westdeutschland zu fliehen. Zu Beginn des Jahres 1946 war Vater eine Stelle als Melker auf einem Hof zugesagt worden. Eine Wohnung wurde gestellt.
»Über ein Jahr sind wir unterwegs«, sprach Vater, als sie am 8. Februar 1946 in Westfalen den Hof des Bauern Bergschulte betraten.
»Ich wünsche, dass Haus und Hof Ihnen ein Stückchen Heimat werden«, begrüßte sie der Bauer am Hoftor.
Sie sahen das kleine, rote Ziegelhaus in der Abendsonne liegen. Hoch über das niedrige Dach hinaus ragte ein mächtiger Eichenbaum.
Vater dachte: Werden wir je sagen können, hier sind wir zu Haus?
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