Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
doch man wusste nicht, wo man enden würde. Ich befürchtete mit einem Mal, den Anforderungen der Freiheit nicht gewachsen zu sein. Wie die Junkies in meinem Haus.
Auf dem Weg zu meinem Zimmer klingelte ich bei ihnen. Vier abweisende Gesichter, entstellt vom Heroin und dem die Sucht begleitenden moralischen Verfall. Vier Vampir-Gesichter. Die dürre Frau zeigte den Männern, wie man mit Wichsern umgeht und kippte eine Auswahl ihrer Lieblingsschimpfwörter über mich.
Ich ignorierte den Wortmüll und sagte nur, diesmal verdammt gut den Lässigen mimend: »Ihr wisst nicht, wer ich bin, ihr habt keine Ahnung. Aber ihr werdet mich noch kennenlernen.«
Oben in meinem Zimmer schüttelte ich über mich den Kopf. Wer war ich denn? Was hatte ich dem Pack denn damit sagen wollen? Dass ich sie bestrafen würde? Wofür? Das mit dem Buick ging jedenfalls nicht auf ihr Konto. Das war mir nach dem ersten Blick in ihre Gesichter klargeworden. Zwar hatte ich darin jede Menge Schuld, Verschlagenheit und Angst gesehen, aber keinerlei Hinweis auf diese konkrete Tat.
Der plötzlich auftauchende Wunsch nach einem Telefon lenkte mich auf eine andere Schiene. Ausgerechnet ein Telefon. In diesem Zimmer gab es noch nicht mal einen Anschluss. Das konnte Wochen dauern. Und wofür eigentlich? Wer sollte mich anrufen? Ich würde allenfalls das Hotel in Bad Harzburg anrufen und Doris Hirsekorn verlangen. Aber warum? Um fünf Minuten mit ihr zu sprechen, von ihr zugleich bedauert und abgelehnt zu werden und dann so traurig wie zuvor den Hörer aufzulegen oder gar an der Tischkante zu zertrümmern? Oder so: Telefon als Verbindung zur Außenwelt. In den sieben Jahren hatte sich das Telefon bis in den letzten Winkel verbreitet. Selbst Landkommunen und Eremiten mit selbst auferlegtem Schweigegelöbnis waren jetzt telefonisch erreichbar, es gab Telefone in Autos und vergoldete Nostalgie-Telefone.
Leute kennenlernen, brauchbare, akzeptable Connections, Telefonnummern sammeln, ein Verbindungsnetz knüpfen – und der Scheißapparat würde Tag und Nacht klingeln, mich nur belästigen und schon bald von mir zerschmettert werden. Falls ich jedoch vielleicht, womöglich, man weiß ja nie, demnächst ein Rock’n’Roll-Sänger werden sollte, und nur dann, wäre das ständige Klingeln des Telefons ein angenehmer Sound, ein Zeugnis des Erfolgs – Manager und Veranstalter, Plattenfirmen und Journalisten, Autogrammjäger, Groupies und Fernsehleute würden sich die Finger wund wählen, um mich zu erreichen.
Vorläufig jedoch würde ein Telefon zu meinem Untergang beitragen, weil ich im Suff und selbst am Nachmittag im
Alsterpavillon
meine Telefonnummer zahllosen Menschen beiderlei Geschlechts und vorzugsweise Psychopathen regelrecht aufdrängen würde – und schon hätte ich wieder eine Menge Stress.
Aber trotzdem, sagte ich mir, musst du Leute kennenlernen. Du musst deine Zelle verlassen. Man braucht Bekannte, es müssen ja nicht unbedingt Freunde sein.
Plötzlich saß Fred vor mir. Der gute alte Freddy. Schon wieder. Er besuchte mich ab und zu, konnte zwar nicht sprechen, doch sein Blick – die liebe, unverstellte Variante – ruhte nachdenklich auf mir. Nicht etwa vorwurfsvoll, nein, eher träumerisch, mit einem Stich ins Abgeklärte. Und jedes Mal, wenn mir Fred erschien, fühlte ich mich echt beschissen, denn ich wusste ja, dass ich ihn hätte aufhalten können, dass ich ihn einfach hatte gehen lassen.
Ich ignorierte ihn, peinlich berührt, und verkroch mich geschwind in meinem Bett.
Die Strecke vom nördlichen Rand St. Paulis bis zu den Neonlichtern der Reeperbahn schafft man zu Fuß und nüchtern in etwa zwanzig Minuten.
Ich blieb schon in der Wohlwillstraße hängen. Hier gab es eine stattliche Anzahl an Kneipen, obwohl das eigentliche Amüsierviertel noch ein gutes Stück entfernt war. Die Straße gefiel mir, da ihr das grell Aufgeputzte und damit auch das Touristische fehlte. Bars für Schwule, Bars für Spieler, Bars für harte Typen, Kneipen für Kriminelle und solche, die es werden wollten, für Kellner, Köche, Koberer und Nutten, die sich hier nach Feierabend zu Hause fühlten, Lokale, in denen unermüdlich Lieder von Hans Albers und Freddy Quinn gespielt wurden und in denen man Ärger bekam, wenn man so leichtsinnig war, über diese Musik zu lästern, denn hier verkehrten nicht wenige eingeborene St. Paulianer, die ja, wie ich wusste, gar nicht anders konnten, als die Hans-Albers- und Freddy-Quinn-Schnulzen aggressiv zu verteidigen,
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