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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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weitab von allen, die mit uns noch ein Hühnchen zu rupfen hatten. Aber da ich mich Doris’ Entscheidung im Überschwang der Gefühle unterworfen hatte, würde ich wohl demnächst nicht in einer eigenen Kneipe hinterm Zapfhahn stehen, sondern eifrig an Bülents Karriere arbeiten.
    Hamburg im Winter – na ja. Die übliche uninspirierte Weihnachts-Dekoration deutscher Städte. Zu Stern- und Weihnachtsbaum-Symbolen geordnete Glühbirnenmassen hingen scheinheilig über den Einkaufsstraßen, in den Schaufenstern ballten sich, von Tannenzweigen, falschen Kerzen, Krippenfiguren und Neon-Kometen umgeben, die angesagten Konsumartikel. Taschenrechner, Telespiele, Videokameras und dynamisch geformte Turnschuhe schienen in diesem Jahr die Renner zu sein. Wie in all den Jahren zuvor bestimmte der kommerzielle Aspekt, ganz ordinär und schlecht verkleidet, das Bild von Weihnachten.
    Wir rollten gerade über den Jungfernstieg.
    »Weihnachten«, dozierte ich streng, »ist nichts weiter als eine Konsumorgie riesigen Ausmaßes. Selbst das Datum ist völlig willkürlich gesetzt worden. Es gibt keinen Beleg darüber, dass dieser Jesus am 24. Dezember geboren wurde. Und selbst wenn, na und?, es geht um nichts anderes als Kohle.« Ich stieß ein verächtliches Lachen aus, geschickt plaziert wie ich fand, zur Unterstreichung, prüfte im Rückspiegel die Qualität meines arroganten Grinsens und sprach weiter: »Wetten, dass die Konsumindustrie nach und nach das gesamte
Neue Testament
zwecks kommerzieller Verwertbarkeit durchforsten lässt? Da ist garantiert noch viel mehr rauszuholen als nur Weihnachten, Ostern und Pfingsten.«
    »Na, jetzt wirst du aber ganz schön renitent«, schmunzelte Doris. »Du wirst doch nicht das einzige Band, das diese Gesellschaft zusammenhält, den Glauben an ein Gott gewolltes endloses Wirtschaftswachstum, zerschneiden wollen?«
    Bülent beugte sich interessiert vor. Diesen Jesus, der im Islam Isa heißt und als einer unter vielen Propheten gilt, sehen die verrückten Christen als Gottes Sohn. So viel war Bülent bekannt. Er wusste nicht viel übers
Neue Testament
, nur so viel, dass es angeblich das Fundament des christlichen Abendlands sei. Und ich wusste, dass er von Anfang an fasziniert war von unseren lockeren, seiner Meinung nach profunden gesellschaftspolitischen Diskussionen. Zuerst hatte er ja, immer noch verklebt mit den Vorstellungen seiner ostanatolischen Verwandten und Bekannten und zu einem skeptischen Blick auf die Religion und die türkische Gesellschaftsstruktur noch nicht fähig, mit Befriedigung registriert, dass im Christentum der Wurm steckt. »Eine Religion, die sich so verbiegen lässt«, hatte er selbstgefällig gesagt, »ein Glaube, der von seinen Anhängern so zerrissen und zurechtgehobelt wird, ist einfach schwach. Das gibt’s im Islam schon deshalb nicht, weil der Islam die einzig wahre Religion ist und im Koran alles ganz genau festgelegt wurde.«
    Nicht nur philosophisch gesehen waren diese Sätze der reinste Blödsinn. Doch ich gebe zu, dass mein anschließendes Lächeln eine Spur zu herablassend gewesen war. Ich hatte sofort gewusst, was aus diesem Lächeln sprach – und es dennoch geschehen lassen, wofür ich mich gleich darauf schämte, vor mir selbst. Auf einmal erkannte ich, unangenehm berührt, den negativen Aspekt meiner scheinbar festgefügten, gewöhnlich auch selbstgewiss vorgetragenen Weltsicht, ja, gottverdammt, ich sah mich erschauernd als Klugscheißer, über den anderen thronend, hoch über allen anderen sowieso und noch weitaus höher über ungebildeten Anatoliern, Afrikanern und, was weiß ich, Tibetern, Papuas, Tuaregs thronend und leider nicht in der Lage, für einen Moment mit den Augen der anderen zu sehen. Okay, sagte ich mir, Lektion gelernt. Von da an begegnete ich Bülent und selbst seinen Äußerungen zur Religion mit größerem Respekt. Es irritierte mich aber schon, dass ich, der zu jeder Gelegenheit – meistens am Tresen, im Knast sowieso – jede Religion niedermachte, das Thema mit einem Mal, zumindest Bülent gegenüber, als heikel empfand und möglichst umging. Das war wohl der Preis für die Freundschaft mit einem, der von einer anderen Kultur geprägt worden war. Davon mal abgesehen verspürte ich keinerlei missionarisches Bedürfnis, ihn zum Atheismus zu bekehren – weil ich Atheismus selbstverständlich nie als Ideologie gesehen hatte, weil ich Ideologien und ihren Dogmen grundsätzlich misstraute. War mir vollkommen wurscht, an was einer

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