Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Vermutlich wegen Weihnachten. Scheiß-Weihnachten, wie ich immer zu sagen pflegte, obwohl die Kindheitserlebnisse unterm Weihnachtsbaum nicht nur in meinem Unterbewusstsein fest verankert waren.
F REUNDSCHAFT IST DAS A UND O
In den folgenden zwei Wochen verließen wir den Hof nicht ein einziges Mal. Das heißt, Eddy fuhr ab und zu in seiner fetten Jaguar-Limousine zum Einkaufen. Geile Karre. Ich hätte mich liebend gern selbst hinters Steuer des Wagens geklemmt, stellte mir vor, wie meine Hände das glatte Edelholz streichelten – aber zur Zeit keine Chance. Bülent, der türkische Familienmensch, litt unter der Trennung von seinen Angehörigen, ich kam mir vor wie auf einer einsamen Insel. Doch wir fügten uns, da wir die positiven Seiten der Abgeschiedenheit von Anfang an erkannten. Wir waren aufeinander angewiesen, zogen stramm Eddys Arbeitsplan durch, und wenn es mal Streit gab, wurde die Sache abends eingehend besprochen, weil keiner flüchten konnte. Solche offenen Aussprachen waren für Eddy und Doris nichts Neues, das hatten sie früher, in Kommunen und Wohngemeinschaften, bis zum Exzess durchgezogen; ich hatte so was im Knast erlebt, in freiwilligen Therapie-Runden, an denen die meisten nur teilgenommen hatten, um wieder mal aus der Zelle rauszukommen; für Bülent hingegen war’s anfangs ’ne Qual. Es fiel ihm sehr schwer, sich vor anderen, dazu noch vor einer Frau, bedingungslos zu öffnen. In seinem früheren Umfeld, sagte er, sei das unvorstellbar gewesen, da wäre sofort die Ehre ins Spiel gekommen, da hätte kein Mann es gewagt, ein Fehlverhalten, eine Dummheit, einen Irrtum zuzugeben, wie aus Stein habe ein Mann zu sein, was einer Lösung des Konflikts nicht eben dienlich sei. Eine Autoritätsperson oder, in komplizierten Angelegenheiten, eine Art Ältestenrat sorge für Ruhe, doch, wie man sich ja denken könne, beuge sich zwar die Verlierer-Partei, wenn auch zähneknirschend, dem Urteil, ohne jedoch tatsächlich zur Einsicht zu kommen. Das liege, so Bülent, eindeutig an den erstarrten, von Ritualen bestimmten Abläufen, der Unfähigkeit zur Offenheit, und überdies sei die Autoritätsperson, der Ältestenrat, nicht automatisch mit Weisheit gesegnet. Nach kurzer Zeit wagte es Bülent, sich darauf einzulassen, er öffnete sich – und spürte Erleichterung. Diese Art, die Probleme zu lösen, beeindruckte ihn – vor allem, weil wir uns dadurch noch näher kamen. Als Fremdkörper fühlte er sich ja längst nicht mehr. Sein ohnehin recht beachtlicher Wortschatz wuchs in erstaunlichem Tempo. Das lag auch daran, dass er sich verbissen durch Eddys Bücher bohrte, was wiederum seiner unfreiwilligen sexuellen Enthaltsamkeit zu verdanken war. Für Doris und mich war jede Nacht Sex angesagt. Sie wollte mich ständig, und ich, auch nicht faul, das Kamasutra im Nacken, entwickelte Ausdauer und Phantasie im Bett oder wo auch immer, und siehe da, am zweiten Weihnachtstag gelang es mir, das Kamasutra-Trauma von mir abzuschütteln.
Jeder von uns begriff das Zusammenleben auf diesem schön renovierten Hof als Bereicherung. Es gab ein gemeinsames Ziel, und wie ein Nachhall von Woodstock schwebte der Geist der Freundschaft durch jeden Winkel des Areals. Zu unser aller Entzücken wurden die
good vibrations
auch mühelos von den Tieren aufgenommen. Kater Elvis war zwar der Chef, keine Frage, gefiel sich natürlich in dieser Rolle, hob aber deswegen nicht ab, sondern warb um die Freundschaft mit Janis und Ringo. Nachdem er’s mit Janis getrieben hatte, gab er sich eh ganz entspannt, hatte mal wieder einen weggesteckt, geile Nummer – und Ringo, der Katze ausschließlich platonisch zugetan, als Rivale somit nicht in Frage kommend, war ohnehin stets um Harmonie bemüht. Oft sah ich die Dankbarkeit in den Augen des Katers, oh ja, keine Einbildung, Elvis war sehr wohl in der Lage, sein Glück zu begreifen. Schmerzlich erkannte ich, dass wir beide uns demnächst trennen würden, denn eins war klar: Er hatte hier sein Zuhause gefunden.
»Du bist also Koch, gelernter Koch?«, fragte Eddy unvermittelt. Ich stutzte, witterte Unheil, mochte die Frage überhaupt nicht, doch mir blieb nichts anderes übrig, als sie zu bejahen – mit mulmigem Gefühl. Und wie befürchtet wurde mir die zweifelhafte Ehre zuteil, am ersten Weihnachtsabend zu kochen. Ein klassisches Weihnachtsessen. Die Gans, ein unbestreitbar prächtiges Tier vom Hof des Bauern Knut Wille in Kleinhansdorf, gleich um die Ecke sozusagen, geriet mir leider zu
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