Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
zäh, was mich keineswegs überraschte, da ich fast immer als Entremetier gearbeitet hatte und somit für Beilagen und warme Vorspeisen zuständig gewesen war – für Klöße zum Beispiel, die ich an jenem Abend rücksichtslos servierte, wissend, dass man mit ihnen hätte Tennis spielen können. Der verkochte Rotkohl fiel da kaum noch ins Gewicht. Scheiße, Scheiße, dachte ich bedrückt, da kann ja Eddy besser kochen. Seine Fischsuppe neulich, alle Achtung. Ich hab ihn ja eindringlich vor mir gewarnt. Das hat er wohl als Bescheidenheit missverstanden. Eigene Schuld!
Die Opfer der kulinarischen Katastrophe gaben sich locker, zerkauten geduldig die Gänsefasern, schlürften tapfer den Rotkohl, zersäbelten mühsam die Klöße, spendierten mir mehrmals ein falsches Lächeln – ich grinste verkrampft zurück. Zu meiner Erleichterung kam keinerlei Lob, aber auch kein Wort des Tadels – schon wegen Weihnachten. Gerührt und zugleich amüsiert nahm ich ihre Bemühungen, alles total normal erscheinen zu lassen, zur Kenntnis. Vergebliche Liebesmüh, dachte ich, innerlich seufzend, ich hatte schon alles gesehen, in ihren Gesichtern und Gesten die Anstrengung abendfüllender Heuchelei. Ihre Stimmen, ungewollt befremdend, in höheren, Friede, Freude, Eierkuchen beschwörenden Tonlagen, quasi flötend, nervös vibrierend, vermochten das allgemeine Entsetzen nicht einmal ansatzweise zu bemänteln. Aber klar, ich verstand, jetzt bloß keine Misstöne aufkommen lassen, nicht nur wegen Weihnachten. Das Projekt stand auf dem Spiel, die große Sache – die keinesfalls an einer zähen Gans zerschellen durfte. Und dann gab es noch die, verkitscht gesagt, zarten, sich mehr und mehr öffnenden Knospen unserer Freundschaft.
In dieser Nacht verweigerte ich mich dem vehement von Doris verlangten Geschlechtsakt. Mir lag jetzt statt des Kamasutra-Traumas die zähe Gans mitsamt den Beilagen bleischwer im Magen – und nicht nur da, schön wär’s gewesen, nein, sie hatte mein Gehirn besetzt, ich sah sie dauernd vor mir, spielte in Gedanken mit den Klößen Tennis. Nie mehr Koch sein, dachte ich, und Gruselschauer überrollten mich.
Fasziniert, erregt wie die Fans eines peu à peu seine Leistung steigernden Sportlers, verfolgten wir Bülents Entwicklung. Rock’n’Roll ist eine Sache des Verstehens, der Bereitschaft sich zu öffnen und der Fähigkeit zur Hingabe. In diesem Fall kein Problem. In Bülent war alles bereits vorhanden. Mit berechtigtem Stolz nahmen Doris und ich schon nach den ersten Stunden wahr, dass er das Tor zum Wunderland des Rock’n’Roll durchschritten hatte. Klassiker wie
Long Tall Sally, Tutti Frutti, Peggy Sue, Let’s Have A Party
und so weiter saugte er auf wie ein Schwamm, lernte mühelos die Namen und Eigenheiten der verschiedenen Sänger und Bands, sang die Stücke auf Anhieb so, wie sie von Elvis, Buddy Holly, Little Richard und Gene Vincent gedacht waren, und seine Bewegungen wurden fließend. Selbst die Bewegungen der Beine und Hüften im Elvis-Stil kamen locker rüber. »Erinnert mich irgendwie, keine Ahnung, warum, an einen verfickten, feuchten, hundertprozentig reinen Acid-Trip«, stöhnte Doris in mein Ohr. »Es liegt daran, dass er keine Angst hat«, sagte Eddy, der mittlerweile dieses Fieber spürte, wie er sagte, diese ganz bestimmte Art von Fieber, die ihn packte, wenn er völlig überzeugt und hingerissen war von Künstlern, die er förderte. Das ersehnte, willkommene, dummerweise sehr seltene Fieber. Um genau zu sein, hatte er es zuletzt vor gut zwei Jahren gespürt, als er eine göttliche Blues-Sängerin unter den Fittichen hatte, die eine Sensation geworden wäre, hätte sie sich nicht vom Heroin besiegen lassen.
Es gab mehrere Termine mit Typen aus Hamburg, die seit Jahren die gängige Vorstellung vom saufenden, kiffenden, egozentrischen Rock-Musiker voll bedienten und sich sauwohl dabei fühlten. Selbstverständlich Matte bis zum Arsch, jetzt erst recht, schon als optisches Zeichen des Widerstands gegen Punk, gegen Disco-Scheiße und Haarausfall. Die abgewichsten, exzellenten Studio-Musiker, die Eddy einen Gefallen schuldig waren, verhielten sich zuerst distanziert, aber konzentriert, professionell, erkennbar bemüht, das Ding mit Druck, vor allem flott und ohne Zeitverschwendung durchzuziehen. In ihren Gesichtern war deutlich das Desinteresse zu sehen, sie wirkten auf mich wie Klempner, die einen straffen Stundenplan vor Augen hatten. Abgewichst stimmten sie ihre Instrumente, ließen
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