Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Moser nur noch in Nuancen. Verpfuschtes Leben? Keine Ahnung. Das Leben meines Vaters ist für mich kein Vorbild. Jahrzehntelang mit grimmiger Miene und der Angst vor den Außendienstbeamten des Ordnungsamts, vor dem Finanzamt, der Pleite, einer Inflation, vor klauenden Angestellten und dem Dritten Weltkrieg im Nacken ein Restaurant zu führen, ist fast so deprimierend wie Knast. Mein Vater war stets mit gramvoll gesenktem Kopf herumgelaufen und hatte mir ständig geraten, mit hoch erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen beziehungsweise zu schreiten und meine Ziele immer höher zu stecken. Als mir, mit, weiß nicht genau, etwa sechzehn oder siebzehn, die Substanzlosigkeit dieser Ratschläge bewusst geworden war, hatte ich den Kontakt zu ihm verloren.
Das Hotelzimmer. Zigaretten, Bier, von draußen die Fetzen menschlicher Stimmen, Fußgetrappel auf dem Flur.
Der Dopplereffekt: Ein Streifenwagen näherte sich, seine Sirene klang anfangs heller, der Wagen fuhr vorbei, entfernte sich, und der Sirenenton wurde ein wenig tiefer.
Es war immer noch heiß, fast windstill, doch das angekündigte Gewitter wälzte sich heran.
»Hamburg ist gar nicht so übel«, sagte Fred, in dessen Augen die Diamanten der Erkenntnis funkelten.
Ich winkte ab. Ich hatte mich entschieden. Für mich waren solche Städte zur Zeit ein, zwei Nummern zu groß, zu fremd, so unübersichtlich. Friedberg mit seinen 25 000 Einwohnern schien mir der richtige Ort zu sein. »Scheiß auf Hamburg«, sagte ich cool – wie Belmondo in
Außer Atem
und hätte dazu am liebsten eine Gitane zwischen den Fingern gehabt. Lucky Strike war auch nicht schlecht, natürlich amerikanischer, aber unsere Leitbilder stammten ja ohnehin aus dem amerikanischen Kino. »Hamburg ist auch nicht mehr das, was es früher einmal war.«
Erstaunt schaute Fred mich an. »Das ganze Land ist nicht mehr das, was es vor sieben Jahren war, Buddy. Es gibt jetzt Porno-Kinos. Auch für Schwule. Und der süße Typ, mit dem ich auf der Toilette war, erzählte mir von Clubs, in denen unglaubliche Dinge ablaufen.«
»Wenn wir in Friedberg sind, kannst du meinetwegen jeden Abend nach Frankfurt fahren. All die Schweinereien gibt es da auch. Hauptsache, ich kann mich auf dich verlassen.«
»Du nimmst mich in die Bande auf? Ich meine, du akzeptierst mich als Partner? Fuck, Alter, ich danke dir.«
Fingerknöchel klopften an die Tür. Ich erstarrte gewohnheitsmäßig, mit den üblichen Filmsequenzen erlebter Scheißerfahrungen im Gehirn-Kino. Fred erhob sich und öffnete.
Uniform, ein Polizist. Sekundenschnell rasten Gedanken durch mein Hirn, kamen sich in die Quere, vereinigten sich, mein Herzschlag legte einen flotten Zahn zu – aber gleich die Entwarnung, alles klar, fast vergessen, ich war ja tatsächlich vollkommen sauber, hatte nichts zu befürchten. Besorgt registrierte ich mein Panikpotential.
»Sind Sie Alfred Fink? Ja? Tut mir leid. Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ihre Mutter. Sie ist gestorben. Vermutlich ein Unfall, in ihrer Wohnung. Sie sollten sobald wie möglich nach …«
»Was sagen Sie? Meine Mutter? Oh Gott! Sie war noch so rüstig, sie hat noch so viel vorgehabt!«
Nun übertreibt er maßlos, dachte ich ebenso beunruhigt wie peinlich berührt. Fred war als Schauspieler eine Katastrophe, doch es gelang ihm, weiß der Teufel wie, sich ein paar Tränen abzudrücken, während er die Hände in die Luft warf, sich die Haare raufte und Gott anklagte. »Wer hat sie denn gefunden?«, flüsterte er, den Rücken gekrümmt, als laste eine Tonne Schmerz auf ihm.
»Die Freundin Ihrer Mutter, Ottilie Kannegießer aus Bad Homburg, die einen Schlüssel zur Wohnung besitzt. Sie hat Ihre Mutter vorgestern leblos auf dem Küchenfußboden gefunden.«
Ein Aufschrei. »Oh nein! Das war ja nur ein paar Stunden, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte. Sie hat noch gesagt, ich solle in Hamburg keinen Unfug anstellen. Ich bin nämlich homosexuell, wissen Sie.«
»Ich nicht«, warf ich, peinlich berührt, ein. »Ich bin sein heterosexueller Freund.«
»Das geht mich nichts an«, antwortete der Uniformierte kühl.
»Das geht Sie sehr wohl was an«, konterte Fred, dem jetzt klar geworden war, dass ihm keine Gefahr drohte, scharf. »Wir Schwule lassen uns nicht mehr ins Abseits drängen! Unsere Situation geht alle etwas an! Und wir vergessen auch nicht, dass wir vor gar nicht langer Zeit von Ihren Kollegen verfolgt wurden. Ich will ja gar nicht bis zur Nazi-Zeit zurückgehen. Noch in
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