Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
mir bekommen. Du musst es nur sagen. Ist das klar?«
»Ja.«
»Die Sache mit den Frauen: Ich werde dafür sorgen, dass du ab morgen eine Freundin bekommst. Hast du verstanden?«
»Ja.«
Tatsächlich lernte ich in den nächsten Tagen in der Schule ein Mädchen näher kennen. Katia. Aber ich brachte sie nicht mit meinem Großvater in Zusammenhang. Wir kannten uns schon. Sie wohnte nicht weit entfernt. Sie kam am Ende des Unterrichtes auf mich zu, fragte, ob sie mit mir Schularbeiten machen könne. Sie wurde von einer Reihe meiner Mitschüler bewundert, hatte aber keinen festen Freund. Schon am selben Nachmittag kam sie zu uns. Von da an fast jeden Tag. Ich glaube, wir profitierten beide von dieser Zusammenarbeit. Rund ein Jahr lang machten wir nur Schularbeiten, redeten über unsere Mitschüler, über Probleme mit der Familie und der Schule, stimmten unsere Meinungen ab. Plötzlich war es so weit, auch unsere Körper zu erkunden. Es ergab sich einfach so, als wäre es im Unterricht dran gewesen. Mehr nicht. An jenem Abend wartete ich immer noch auf die Strafe meines Großvaters. Ich war darauf gefasst, dass er mich schlagen würde. Ich zuckte zusammen, als ich seine Hand auf meinem Bein unter der Bettdecke spürte. Dann beugte er sich über mich. Ich roch seinen Bieratem. Ich presste mich in das Kissen, fürchtete, er wolle mich beißen. Doch dann presste er seine Lippen auf meine, streckte seine Zunge in meinem Mund.
Was ich heute noch von diesem Kuss in Erinnerung habe, sind die harten Stacheln seines Bartes.
14
Ich erwachte neben Eva. Ihr Gesicht war nass. Sie öffnete die Lider. Ihre Augen schwammen in einem blutigen See. Mit beiden Händen tupfte sie die Tränen von ihren Wangen und verrieb sich das Wasser auf der Brust. Ich streichelte sie. Sie beugte sich über mich, und jetzt tropfte die Flüssigkeit aus ihren Augen auf mein Gesicht. Sie leckte mich mit einer großen dunkelblauen Zunge trocken.
Als ich wieder erwachte, schlief sie, gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Katzenschnurren und Schnarchen war.
Ich hob meinen Kopf, und in meinen Ohren gab es einen Knall, der von innen kam. Ich zuckte zusammen. Wieder einmal dieser Pistolenschuss in meinem Gehirn. Ich stand auf, roch Evas Körper, ihr Holzkohleparfum, als hätte es noch vor kurzem gebrannt. Aber noch mehr irritierte mich, dass ich ihren Körper in der Dunkelheit sehen konnte, als wäre er mit phosphoreszierender Farbe bestrichen.
Ohne Licht zu machen, ging ich in die Küche, spürte jede Ecke, jede Kante, jeden Mauervorsprung im Voraus. Mit einem Mal besaß ich die Eigenschaften einer Fledermaus.
Während ich im Dunkeln ein Glas Wasser einschenkte und trank, betrachtete ich die Briefe, die Eva mit einer Nadel übereinander auf einer Korktafel befestigt hatte. Mein Augenlicht hatte so sehr an Schärfe gewonnen, dass ich in der Finsternis lesen konnte. Einer der Briefe war von einer Firma, die allen Mietern mitteilte, dass sie die Hausverwaltung vom Inhaber William Godin übernommen habe. Und plötzlich überschüttete mich Erkenntnis wie heißes Wasser auf meiner nackten Haut. Diese Wohnung war mit ihrer gesamten Ausstattung die Wohnung meines Großvaters gewesen.
Ich wagte mich keinen Schritt mehr zu bewegen, wusste nicht, ob meine Gelenke standhielten, sich vielleicht eine Falltür öffnen würde. Meine wiedergefundenen Sinne waren offene Wunden geworden. Sie spiegelten mir Abgründe, geöffnete Raubtierrachen, Fallbeile, Giftschlangen, fallende Messer vor.
Ahnungslos war ich in das Netz meines Großvaters getappt, roch plötzlich seinen Eukalyptusatem in meinem Nacken, erwartete, dass sich seine schwielige Hand auf meine Schulter legte. Vorsichtig drehte ich mich um. Ich brauchte eine Waffe. Ich musste ihn töten, ihm zuvorkommen.
»Eva?«
Sie war aus dem Bett in eine Zimmerecke gekrochen und presste sich dort mit angezogenen Knien an die Wand.
William Godin würde für alles bezahlen, was er mir genommen hatte – mit seinem Leben. Wenn ich nicht alles an Selbstbehauptung, wiedererlernten Gefühlen erneut verlieren wollte, musste er sterben.
Ich brauchte Verbündete. Ich musste meine Mutter besuchen, meinen Vater, musste mit meinem Bruder sprechen. Möglicherweise würde mir sogar meine Großmutter helfen. Eventuell sogar Onkel Frederik. Der hatte die größte Freiheit erreicht.
Ich beugte mich zu Eva herab. Sie zitterte, nahm schützend die Arme vor das Gesicht. »Nicht schlagen.«
»Keine Angst. Du musst keine Angst
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