Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Risiko hielten, war volles Risiko.«
Sie kam noch einen Schritt auf mich zu, legte das ganze Gesicht in Falten und kniff die Augen zusammen. »Er probierte nie etwas aus. Er machte es einfach. Es gab keine Tests. Verstehen Sie? Er wollte jedes Mal sterben.«
»Ist er ... ist er tot?«
»So gut wie.«
16
»Wir gehen!«, befahl mein Großvater.
Ich rührte mich nicht, sah hinauf zu Onkel Frederik an der Dachkante.
»Spring doch, spring!«, rief jemand hinter mir. Ich drehte mich um. Es war ein älterer Mann in einem dunkelblauen Anzug und mit silberfarbener Krawatte. Sicher kam er aus einem der umliegenden Büros. Das Viertel beherbergte viele Anwälte, Unternehmensberater und Banken.
Mein Onkel Frederik stand oben auf einem leeren fünfstöckigen Gebäude. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen, die Schaufenster der Läden im Untergeschoss mit Holzplatten vernagelt. Das Haus war zum Abriss freigegeben. Es sollte einem neuen Einkaufszentrum weichen.
»Spring, wir wollen Blut sehen!«, rief der Mann.
Ich begriff, die Leute dachten, es handle sich um einen Selbstmörder.
»Lass uns gehen«, sagte mein Großvater. Er sah zu Boden und regte sich nicht. Seine Hände steckten tief in den Taschen. Mit den Zähnen zermalmte er langsam ein Eukalyptusbonbon. Wir standen in einer Gruppe von Zuschauern auf der anderen Straßenseite. Mein Großvater war mit mir in die Innenstadt gefahren, nachdem er einen Anruf von Frederik bekommen hatte. Ich muss etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein und wusste nicht, was mich erwartete. Aber ich erkannte meinen Onkel auf dem Dach sofort. Er trug einen weiten Wettermantel, den der Wind hob, hinter ihm flattern ließ. Der Mantel wirkte, als wäre er der Umhang von Supermann und als würde mein Onkel gleich im weiten Bogen herabfliegen wollen. Er trat jetzt bis an den Rand, schob seine Fußspitzen schon darüber hinaus. Er suchte jemanden in der Menge. Ich hob die Hand, winkte, aber er sah mich nicht. Es waren fast hundert, vielleicht sogar zweihundert Menschen, die entlang des Fußweges standen und den Kopf nach oben streckten.
Zwei Polizeiwagen fuhren vor. Die Beamten vertrieben die Passanten unterhalb des Gebäudes. Schließlich rollten sie ein rot-weiß gestreiftes Band aus und sperrten damit den Fußweg ab. Einige Passanten kümmerten sich nicht darum, unterliefen die Absperrung.
Inzwischen riefen mehrere der Schaulustigen, er solle springen. Eine Gruppe bildete sich, die ihn im Chor aufforderte und als Feigling beschimpfte. Ich begriff das nicht. Kannten sie denn meinen Onkel nicht, hatten sie nie etwas von Flying Freddy gehört?
Ein Eukalyptushauch erreichte mich. Mein Großvater beugte sich zu mir herunter, knurrte: »Los, komm jetzt!«
Er stieß mich an, bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich schüttelte den Kopf. Da riss er mich an der Schulter herum und zog mich hinter sich her bis zur nächsten Seitenstraße.
»Ich will das sehen, lass uns bleiben«, jammerte ich. Und als wir um die Ecke bogen, gelang es mir, mich aus dem harten Griff um meinen Oberarm zu befreien.
»Bleib hier!«, rief mein Großvater und: »Komm sofort zurück!«
Ich lief so weit auf die Straße, bis ich meinen Onkel wieder sehen konnte. Er stand noch immer mit ausgebreiteten Armen oben am äußersten Rand des Daches.
»Er springt nicht!«, brüllte mein Großvater. »Er will nur drohen!«
Ich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Natürlich würde er springen, und sicher hatte er ein verborgenes Fluggerät auf dem Rücken, oder er war mit einem elastischen Seil verbunden, das seinen Sturz kurz vor dem Aufprall abfedern würde. Was mich allerdings irritierte, war das Fehlen jeglicher Reklametafeln, Fahnen oder Transparente. Aber Fotografen gab es mehrere, und sicher würde sich morgen in der Zeitung alles aufklären. Unter einem Foto meines Onkels würde man lesen können, warum er gesprungen war. Ein neuer Rekord, die Eröffnung eines Ladens, die Einführung eines neuen Waschmittels, Werbung für einen Klebstoff oder für Vitaminpillen.
Ich drängelte mich durch die Menge zurück zu unserem alten Standplatz, zwängte mich geduckt an den Beinen vorbei bis ganz nach vorn an den Straßenrand.
»Geh zurück, Junge«, sagte eine ältere Frau. »Das ist nichts für dich.«
»Aber das ist mein Onkel da oben.«
Ich glaube, sie verstand mich nicht. Jetzt begann ein ungeduldiges Pfeifkonzert.
Die Polizeiwagen parkten inzwischen quer, sodass eine Fahrspur der Straße gesperrt war. Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher