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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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was sie erkennen wollen und was nicht. Wenn die Sprache weg ist, ist unsere Wirklichkeit nicht mehr da. Das Wort für eine Sache geht mit der Sache selbst eine feste Verbindung ein. In unserem Gehirn können wir es nicht mehr trennen. Wer weiß, ob Milch nicht in Wirklichkeit ›Slab‹ ist. Der Sprachlose erkennt eine Wahrheit, die Menschen in der Sprache nicht finden können. Verstehst du das?« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust.
    Ich verstand es nicht oder nur ungefähr, aber ich nickte. Allmählich begriff ich, dass alles nur ein Spiel von ihm gewesen war. Vielleicht im Auftrag meines Großvaters. Ich stand auf, hob den Tisch mit einem Ruck an. Alles, was daraufstand, rutschte ihm auf die Hose. Vor allem die Milch.
    Er lächelte, tat nichts.
    Ich schrie, so hoch und so lange ich konnte. Ich wollte, dass ihm das Trommelfell platzte. Dann rannte ich hinaus.

10
    »Haben Sie Angst?«, fragte ich. Eva war zusammengezuckt. Unsere Arme hatten sich zufällig auf der gemeinsamen Armlehne der Kinosessel berührt.
    »Ja.« Sie verschränkte die Arme fest über der Brust.
    »Bin ich gefährlich?«
    »Ich glaube schon.«
    Sie war zu klein für den Kinosessel. Sie rutschte nach vorn, um Höhe zu gewinnen. Wahrscheinlich auch, um schneller fliehen zu können.
    »Im Grunde finde ich es nicht fair, mit Ihnen in einen Film zu gehen, den Sie schon kennen«, sagte sie. »Es muss Sie langweilen. Wenn ich mir das vorstelle, bekomme ich Angst vor Ihnen. Was werden Sie tun?«
    »Ich werde Ihnen nichts tun. Sie müssen bei mir auf keine Gefühle Rücksicht nehmen. Ich habe keine.«
    »Aber wenn mich eine Handlung einfängt, falle ich in eine Art Bewusstlosigkeit. Gute Filme wirken wie Hypnose auf mich. Ich nehme meine Umgebung nicht mehr richtig wahr.«
    »Sie fürchten, ich könnte Ihnen dann etwas antun? Etwas gegen Ihren Willen?«
    »Wenn Sie mich etwas fragen, höre ich vielleicht nicht zu und antworte mit Ja oder Nein, obwohl ich weder Ja noch Nein sagen will.«
    »Ich werde nichts fragen.«
    »Sie könnten nach mir greifen.« Sie legte den Finger auf ihre schmalen Lippen. »Wenn Sie dieses Thema vertiefen, dann werde ich sofort gehen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, wie es überhaupt möglich ist, als Frau zu leben.«
    »Nur unter großen Schwierigkeiten. Und nun halten Sie den Mund. Das ist das gleiche Thema.«
    Es wurde dunkel. Im von der Leinwand reflektierten Licht gewann ihr Profil an Ausprägung. Der Film begann.
    »Warum gucken Sie mich an?«, flüsterte sie.
    »Ich kenne den Film gut«, sagte ich. »Ich kann es mir erlauben, gleichzeitig zu beobachten, wie er auf die Zuschauer wirkt. Ich lerne dabei, welcher Vorgang und welche Worte welche Gefühle hervorrufen.«
    Es war Sergio Leones Once Upon A Time In The West. Das kleine Programmkino hatte eine Reihe mit berühmten Western gestartet. Die Entscheidung für Claudia Cardinale und Charles Bronson war mir leichtgefallen. Parallel lief Pillow Talk, und vor dem Eingang stand eine größere Gruppe von Besuchern, die alle versucht hatten, Doris Day oder Rock Hudson ähnlich zu sehen. Wir passten nicht dazu. Die Schauspieler in Leones Film waren uns ähnlicher. Ich betrachtete Evas Profil, und plötzlich erinnerte ich mich an mein Kindermädchen. Ich hatte es vollkommen vergessen. Genau genommen erinnerte ich mich nur an zwei oder drei Fotos, auf denen sie mit einem Baby zu sehen war. Das Kleinkind, so hatte man mir versichert, sei ich. Ich glaube, sie kam von den Philippinen und war die ersten zwei Lebensjahre bei mir. Möglicherweise war sie auch meine Amme. Obwohl ich keine Erinnerung daran hatte, besaß ich wohl aus der Zeit vor der Erziehung durch meinen Großvater eine Konditionierung für asiatische Gesichter. Evas Gesicht vermittelte eine Art Wohlbefinden.
    »Sehen Sie nach vorn«, sagte Eva.
    Als wir das Kino verließen, legte ich meinen Arm um sie.
    »Bitte keine besitzergreifenden Gesten«, sagte sie.
    »Ich dachte nur an ein Signal der Zuneigung.«
    »Die Liebe darf nichts kosten.«
    Ich nahm meinen Arm zurück. »Ein chinesisches Sprichwort?«
    »Ich komme aus Kambodscha.«
    »Neulich kamen Sie doch aus einem anderen Land.«
    »Ich wechsle meine Herkunft situationsbedingt.«
    »Und warum kostet Sie die Liebe etwas?«
    »Sie kostet Tränen.«
    »Nicht immer.«
    »Doch, immer.«
    »Gut, dann so.« Ich nahm vorsichtig nur ihren Kopf in meine Hände und küsste ihre Stirn.
    »Nicht«, sagte sie, aber sie wehrte sich

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