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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Ecke.
    Wie konnte Eisen nur ein solches Geräusch machen? Kein Quietschen, sondern ein Pfeifen, als ob tausend wahnsinnige Verkehrspolizisten in ihre Pfeifen pusteten, um die Hexe zur Vernunft zu bringen.
    Wie ein Pferd, das sich aufbäumte, riss die Straßenbahn sämtliche Räder auf der linken Seite von den Schienen. Noch in der Luft drehten sie sich wie verrückt.
    Mit aller Kraft trat Klawdi aufs Gas, raste weiter, als wolle er den auf die Seite stürzenden Koloss stützen. Bedauerlicherweise hatte er nur Macht über Hexen. Über öffentliche Verkehrsmittel fehlte sie ihm.
    So krachte die Straßenbahn um. Die Erde bebte, ein Schaufenster in der Nähe zersprang, die Straßenbahn überschlug sich, streckte die Räder gen Himmel und zerquetschte die am Straßenrand geparkten Autos; daraufhin überschlug sie sich ein zweites Mal, wobei es für kurze Zeit so aussah, als würde sie gegen die Fassade des Hauses mit dem zersplitterten Schaufenster knallen, am Ende reichte die Fallkraft dafür jedoch nicht aus. Die Straßenbahn konnte kaum noch als solche bezeichnet werden. Eine verkrüppelte Leiche war sie nun, die zurückpolterte, hinein in die völlig unschuldigen Autos, diese in einen Brei aus Glas und Metall verwandelnd, während die Erde erneut bebte.
    Klawdi sah sich selbst, wie er dasaß, sich verzweifelt am Armaturenbrett abstützte, das Bremspedal immer noch bis zum Anschlag durchtrat, obwohl das Auto bereits hielt, im Fond Leere klaffte und beide Türen offen standen.
    Die Sonne war aufgegangen, das Rot dem Gold gewichen.
    Der Straßenbahnführer starb im Krankenhaus.
    Zwei Fahrgäste, die die erste Straßenbahn hatten nehmen wollen, sollten überleben, weitere Personen waren am Ort der Katastrophe glücklicherweise nicht zugegen gewesen.
    Von der Hexe fehlte jede Spur.
     
    Das Lampenschirmschiff leuchtete. Auf den Wänden der Studentenbude lagen bizarre Schatten. Ywha wollte dem alten, vertrauten Zimmer zulächeln, schaffte es aber nicht.
    Ein Gefühl unermesslicher Schuld quälte sie. Mit keinem Wort oder Blick hatte Nasar ihr einen Vorwurf gemacht. Dennoch spürte Ywha, wie mit jeder Sekunde seiner Anwesenheit die Last ihrer Schuld zunahm. Die Begegnung genießen – dazu war sie nicht mehr imstande.
    Sie schämte sich, ihm in die Augen zu sehen. Dabei wollte sie ihn mit Blicken verschlingen, gierig jede Nuance, noch den kleinsten Abdruck der getrennt von ihr verbrachten Tage in sich aufnehmen.
    Am Ende brachte sie doch noch ein Lächeln zustande. Sie setzte sich aufs Sofa, diesen Zeugen unzähliger leidenschaftlicher Nächte. »Kann ich einen … Tee bekommen?«
    Nasar nickte ernsthaft und verschwand in der Küche. Wie sehr Ywha diese Begegnung herbeigesehnt hatte! Und jetzt verbarg sie ihr Gesicht in den Händen …
    Eine halbe Stunde vor dem Wiedersehen war sie halb tot vor Nervosität gewesen. Am meisten hatte sie sich davor gefürchtet, Ekel in seinem Blick oder seinen Gesten zu entdecken, weshalb sie mit einem gekünstelten Lachen ohne Umschweife erklärt hatte: »Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht initiierte Hexen unterscheiden sich durch nichts von anderen Menschen. Nicht mal physiologisch. Wenn du willst, frag Starsh danach.«
    Diese Worte bewiesen einmal mehr, wie sehr sich Ywhas klarer Verstand in der Zeit, da sie diese Begegnung herbeigesehnt hatte, getrübt haben musste, andernfalls wäre sie kaum auf solche Dummheiten gekommen. Nasar blickte finster drein, sagte jedoch kein Wort.
    Jetzt saß sie auf dem Sofa, bedeckte das Gesicht mit den Händen, während durch die kalten Finger das transparente Zauberlicht des Schirmschiffs fiel. Nasar hantierte in der kleinen Küche. Das Klappern des Geschirrs kam Ywha wie eine spöttische Antwort auf ihren Traum vor: auf ihre kleine und warme, gemütliche Idealwelt, in der ein Lampenschirm leuchtete und der geliebte Mann ihr in der Küche Tee kochte.
    In der Luft hing ein Hauch des Falschen.
    Als ob jemand, der sein ganzes Leben lang die magische Erinnerung an die in der Kindheit verlassene Stadt hütet, irgendwann beschließt, in die staubigen, schweißigen und wuseligen Straßen zurückzukehren, dann aber vor der Tür seines Geburtshauses von einem Fuß auf den anderen tritt und verzweifelt den Griff des Koffers, der mit einem Mal sehr schwer scheint, umklammert. Ein unwiederbringlicher Verlust, das ist nicht nur der Tod. Genauer: Es gibt noch andere Formen des Todes, darunter einen Tod, bei dem sich äußerlich nichts ändert und selbst der Tote

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