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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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rieseln.
    Verdammt, er musste endlich sein Hirn gebrauchen!
    Dem Schmerz konnte er sich später noch in aller Ausführlichkeit widmen.
    »Patron?«
    Immerhin erkannte er die Straße jetzt wieder klar und deutlich. Den roten Halbkreis der aufgehenden Sonne über den Dächern, die barfüßige Frau, die auf eine Kreuzung zurannte. Die in Sonnenlicht getauchten Schienen der Straßenbahn warfen rosafarbene Lichtreflexe auf den Asphalt. Das ferne Bahnhofsgebäude erhob sich als dunkelblaue Silhouette am Ende der breiten Straße, ruhig und schön.
    Verlor er sie?!
    Die Wut half ihm, seine Kräfte zu bündeln. Sein Wille stürzte hinter ihr her, schlängelte sich aus dem Auto, hängte der Hexe ein schweres, nicht zu stemmendes Gewicht an die nackten Füße. Oder versagte er doch?
    Nein! Schon stolperte sie, drosselte ihr Tempo. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, was ihr vermutlich auch gelingen mochte; allerdings würde sie dafür einige Sekunden brauchen.
    Wieder ließ sich die Straße links und rechts vom Auto nicht mehr erkennen. Wind peitschte ihm ins Gesicht, der nun auch noch das letzte Stück Glas der Windschutzscheibe eindrückte. Die Sonne ging vollends auf, verängstigt bremste der von der Arbeit zurückkehrende Wagen der Stadtreinigung, dessen Wassertank nun leer war. Die Hexe hinkte und befreite sich mit jedem Schritt von der unsichtbaren Last, die Klawdi gesandt hatte. Dennoch wurde der Abstand zwischen ihnen kleiner und kleiner. Schon machte Klawdi einen Riss im Saum des dünnen, hellen Kleides aus, schon erkannte er das Verteidigungsornament auf dem Ledergürtel, sah den langen Kratzer auf dem entblößten Schenkel und das rosafarbene Ohr, das durch einen Wust aus dunkel glänzenden Haaren stak.
    Konzentriert stellte er sich auf das Duell ein. Vielleicht das wichtigste, vielleicht das entscheidende in seinem Leben. Vielleicht auch das letzte, so wie einst beim Inquisitor Atryk Ol.
    Die Hexe blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Unter einem Geflecht schwarzer Leitungen. Sie blieb stehen und drehte sich um; Klawdi fing ihren Blick auf.
    Auch sie kannte das Schicksal Atryk Ols. Aber auch das Schicksal der Hexen, die ihn getötet hatten. Jetzt verharrte sie reglos, beobachtete, wie ein schwarzes Auto mit zertrümmerter Windschutzscheibe direkt auf sie zuschoss.
    Nein, das stimmte nicht: Sie schaute seitlich an ihm vorbei.
    Blickte zu einer schmalen, kopfsteingepflasterten Straße hinüber, aus der eine blaue Straßenbahn auf die Kreuzung zuzuckelte. Die erste Bahn des heutigen Tages, Linie 2, noch verschlafen und leer, näherte sich dem Bahnhof. In den quadratischen Fenstern spiegelte sich die tief stehende Sonne.
    Gerade eben noch hatte die Hexe auf der Kreuzung gestanden – jetzt hing sie schon auf dem Trittbrett und umklammerte mit beiden Händen die vordere Fahrertür. Und bereits im nächsten Augenblick öffnete sich die blaue Falttür und ließ die Hexe ein.
    Brüllend schickte ihr Klawdi einen Schlag hinterher, der jedoch, da er auch noch das Auto lenken musste, zu schwach ausfiel. Die beiden auf dem Rücksitz griffen nach ihren Pistolen. Spinnen die?!, dachte Klaw. Damit machen sie alles nur noch schlimmer!
    Die Straßenbahn vibrierte. Zitterte, als leide sie Schmerzen – und fuhr weiter, überquerte die Kreuzung, somit alle Verkehrsregeln und die eigene Fahrstrecke ignorierend. Als sie leichthin über ein Gleis hüpfte, bemerkte Klawdi die an den Rädern aufstiebenden Funken. Die Straßenbahn brach aus, bog in die breite Straße der Industrie, gewann Fahrt und sauste den Hang hinunter.
    Er riss das Lenkrad herum, trat das Gaspedal voll durch. Der Wind biss ihm in die Augen.
    Die unvorstellbar lange Straße der Industrie fiel über die gesamte Strecke leicht ab. Die Straßenbahn fuhr inzwischen schnell wie ein Eilzug, ächzte, polterte von einer Seite auf die andere und zog einen Schweif braunen Staubs hinter sich her. Die geröteten Augen zusammengekniffen, erkannte Klaw durch die Scheibe die zur Salzsäule erstarrte Gestalt des Straßenbahnführers. Und auch die der stolz dastehenden Frau, die sich wie ein Denkmal neben ihm erhob. Klawdi wollte schießen, wusste jedoch, dass jede in eine Hexe gefeuerte Kugel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Augenzeugen in der Nähe getötet hätte – oder den Schützen selbst.
    Die Straße der Industrie endete. Als sei einem unter den Füßen ein Teppichläufer weggezogen worden. Ohne das Tempo zu drosseln, flog die Straßenbahn um die

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