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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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keine Zigarettenschachtel, nicht einmal Bonbonpapier.
    Deshalb ging sie schweigend hinaus, die Tür fest hinter sich schließend.

9
    »Meine Brüder, die Inquisitoren, verlangen von mir, etwas über die Natur der Mutterhexe zu erfahren. Selbst die Magd zeigt sich überaus neugierig und fragt mich danach. Sobald ich ihnen allen antworte, Einzelheiten ließen sich nicht bei mir, sondern nur bei der Mutterhexe selbst in Erfahrung bringen, machen flugs Gerüchte die Runde, der alte Ol habe den Verstand verloren.
    Was gelten meine Überlegungen denn schon? All meine Gedanken, Schlussfolgerungen und Ansichten? Bisweilen dünkt mich, es komme längst nicht nur eine Mutterhexe in die Welt, sondern ihrer unzählige würden zur gleichen Stunde geboren, auf dass in einem Duell auf Leben und Tod die stärkste unter ihnen ermittelt werde.
    Es ist ein langer und warmer Herbst. Ich habe das Zimmermädchen angewiesen, in meinem Arbeitszimmer Blätter statt eines Teppichs auszulegen. Der Duft belebt mich, das Rascheln beruhigt mich. Freilich lässt mich der Staub husten, mithin vermag ich nach einem langen Arbeitstag nicht einzuschlafen, weshalb ich heute Morgen befahl, die Blätter wieder einzusammeln und hinauszutragen.
    Auf drei großen Plätzen sind gestern neue Scheiterhaufen errichtet worden.
    Die Natur meiner Herrinnen entzieht sich unserer Ratio. Gewiss, wir können uns an die Stelle des niedersten Käfers versetzen, der an Blattwerk nagt, um den Hunger zu stillen. Uns dergleichen vorzustellen sind wir imstande, da der Hunger uns nicht fremd ist. In unseren sündigen Träumen können wir uns gar an die Stelle des Hirschs setzen, welcher die Hirschkuh deckt, dieweil auch uns die Fleischeslust nicht fremd ist. Kein Einziger von uns vermag indes je zu verstehen, was die Mutterhexe antreibt. Sie bringt Junge hervor, die sie hernach zumeist tötet. Vergießt ein ehrgeiziger Herrscher das Blut seiner und fremder Untertanen, so verstehen wir selbst das, ist der Stolz doch auch uns nicht fremd. Erlaubt ein unersättlicher Arzt der Krankheit, um sich zu greifen, auf dass er den verzweifelten Kranken das Dreifache abverlangen kann, so vermerken wir eine Geldgier, die stärker als das Gewissen ist. Meine Herrinnen, die Hexen, sind weder ehrgeizig noch unersättlich. Sie trachten nicht nach Geld noch nach Macht, sie kennen keinen Hunger noch Fleischeslust. Sie wissen nicht, was gut ist und was wir schlecht nennen. Sie sind unschuldig. Sie richten uns einzig durch ihr Dasein zugrunde.«
     
    »Frau, äh, Lys, der Herr Großinquisitor lässt Ihnen ausrichten, Ihre Dienste würden heute nicht benötigt. Man wird Sie jetzt nach Hause bringen.«
    »Ich kann doch allein gehen«, antwortete sie sofort.
    »So sind die Anordnungen des Herrn Inquisitors«, erklärte der Referent – nicht Myran, sondern ein anderer – traurig. »Er ist ungeheuer beschäftigt, ich kann an dem Befehl leider nichts ändern. Man wird Sie abholen.«
    »Will mich der Herr Großinquisitor denn gar nicht sehen? Nicht einmal kurz?«
    »Ich habe Ihnen genau wiedergegeben, was Herr Starsh angeordnet hat«, erklärte der Referent mit ausgebreiteten Armen. »Dem ist nichts hinzuzufügen. Nicht das Geringste.«
     
    Sie kannte ihren Begleiter bereits, einen schmächtigen, älteren Mann, der sein ganzes Leben lang nur Hilfstätigkeiten ausgeübt, sich darüber jedoch nie beklagt hatte. Da Ywha wusste, wie lustig dieser ewige Assistent sonst gewesen war, irritierte sie seine plötzliche Einsilbigkeit umso mehr. Nachdem er Ywha begrüßt hatte, hatte er kaum noch ein Wort herausgebracht.
    »Was ist los? Gibt es Schwierigkeiten?«
    Ihr Begleiter antwortete nicht. Vielleicht hatte er die Frage auch nicht gehört, die sie ihm mehr oder weniger beiläufig gestellt hatte. Sie hielt kaum mit ihm Schritt, während er durch die verschlungenen Gänge und Treppenhäuser trabte, denn aus irgendeinem Grund verzichtete der ewige Assistent auf Fahrstühle. Kurz vorm Haupteingang – so weit kannte sich Ywha im Palastinnern inzwischen aus – blieb ihr Begleiter stehen. »Ich möchte Sie bitten, im Auto zu warten. Oder nein, folgen Sie mir. Wir müssen kurz noch etwas erledigen.«
    Ywha folgte ihm gehorsam, hätte sie doch sonst rasch jede Orientierung verloren. Prachtvolle Gänge und Säle mit reglosen Wachtposten wechselten sich mit dunklen Fluren ab, wie man sie aus tristen staatlichen Einrichtungen kannte. Ywha hatte nicht die geringste Ahnung, in welchen Teil des Palasts sie besagte kurze

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