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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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der Regen gegen die Metallverblendung überm Fenster. Nasar schnaufte genüsslich und hatte die Hand katzenartig vors Gesicht gelegt. Sonst aber gab es in dieser Welt keinen Laut, kein Geräusch.
    Ywha lag wach.
    Durch die fest geschlossenen Gardinen drang das Dämmerlicht nicht herein. Obwohl es im Zimmer dunkel war, wusste Ywha, dass der verregnete Himmel bereits graute. Vielleicht würde der Wind die Wolken ja bald auseinandertreiben. Und vielleicht käme auch die Sonne noch heraus.
    Sie schloss die Augen. Ein unbekannter, unangenehmer Schmerz saß ihr in der Brust. Nie in ihrem Leben hatte sie irgendwas am Herzen gehabt. Aber natürlich gab es für alles ein erstes Mal.
    Sie wollte den Arm heben und sich die Rippen auf der linken Seite reiben, fürchtete jedoch, Nasar zu wecken.
    In ihrer Kindheit hatte sie sich gefragt, wie sich wohl die Matrjoschkas fühlten, so ineinandergesteckt, die kleinere immer in der größeren, bis zur allerwinzigsten am Ende. Was mochte eine dieser Puppen fühlen, wenn sie sich aus dem Leib ihrer Vorgängerin schälte und sich gewissermaßen von außen betrachtete?
    Jetzt entschlüpfte Ywha sich selbst wie eine Matrjoschka. Von außen sah sie eine rothaarige Frau, die mit einem schlafenden Mann im Arm dalag. Ein schmerzliches Vorgefühl ließ sie den Atem anhalten.
    Es war bereits Morgen. Die rothaarige Frau hatte kaum ein Auge zugetan – doch während eines kurzen Traums hatte sie die Baumkronen eines Waldes gesehen, der sich weit unter ihr erstreckte, die verrauchten Gänge eines brennenden Theaters und die Schatten der tanzenden Tschugeister. Gestern Abend hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben gewünscht, die Zeit anzuhalten. Die Zeit hatte ihr jedoch nicht gehorcht – und recht hatte sie damit getan.
    Der Mann … Nein, er hatte sich nicht verändert. Er war in der Zeit ihrer erzwungenen Trennung keineswegs gealtert. Ywha beobachtete, wie das selige Glück nach und nach von seinem schlafenden Gesicht kroch. An der Nasenwurzel entstand eine Falte, die Mundwinkel zogen sich traurig nach unten. Nasar träumte von der Wahl, die er am heutigen Morgen treffen musste. Ein unangenehmer, Besorgnis erregender Traum.
    Entsetzt registrierte Ywha, dass sich das Vorgefühl in ihrer Brust gerade in Wissen verwandelte.
    Sie wollte die Augen schließen, die unvermeidliche Einsicht wegblinzeln – aber wenn sie ihrem Schicksal nicht in die Augen sah, würde es sie unter Garantie einholen und ihr in den Rücken treten. Vielleicht auch etwas tiefer. Ywha holte Luft und ließ das Wissen um den Verlust in sich einsickern.
    Es stellte sich als kurz und völlig schmerzfrei heraus. Nicht mehr als ein Wort: Schluss.
    Schluss, jetzt war alles aus. Irgendwie war ihr sogar leichter zumute. Sie konnte selbst nicht erklären, warum. Die entsprechenden Worte standen ihr nicht zur Verfügung. Sie fühlte es einfach. Genau wie wohl eine Füchsin um den Moment weiß, da ihr Junges keinen Schutz mehr braucht, auf die raue, schmale Zunge und den warmen, weich bepelzten Bauch verzichten kann.
    Schluss.
    Sie schlüpfte unter der Decke hervor und zog sich im Halbdunkel an.
    Der zerrissene Reißverschluss an den Jeans forderte ihr ein paar lautlose Tränen ab. Was für ein falscher Unterton in der pathetischen Szene ihrer Trennung! Schließlich gehörte es sich für eine junge Frau nicht, mit offenen Hosen auf die Straße zu gehen.
    Sie wusste, wo Nasar Nadel und Faden aufbewahrte; sie hatte das Nähzeug selbst an diese Stelle gelegt. Nasar schlief, die Falte an seiner Nasenwurzel grub sich immer tiefer ein, während sich seine ehemalige Freundin hastig die Hosen nähte, die sie gerade am Körper trug. Stich für Stich, ein Zischen unterdrückend, wenn sie sich die Nadel in den Körper rammte.
    Nachher würde er aufwachen – und erleichtert sein. Vielleicht würde er sich das nicht einmal selbst eingestehen. Er würde sich traurig, verletzt, möglicherweise sogar verraten fühlen. Aber das entscheidende Gefühl würde das der Freiheit sein. Professor Mytez würde dies vermutlich ebenfalls zu schätzen wissen, der gute alte Professor Mytez.
    Ywha biss den Faden ab. Die Hosen waren zu, Nasar schlief, unter der dunklen Zimmerdecke schwamm das dunkle Schiff, das zusammen mit dem Licht auch einen Großteil seines Zaubers eingebüßt hatte. Schluss.
    In der Tür schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihm etwas zu schreiben, ein paar Worte, wie es in allen Melodramen üblich war.
    Aber sie hatte keinen Bleistiftstummel,

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