Das Jahrhundert der Hexen: Roman
hingegen ist unsere Zeit abgelaufen. Die Tür steht ja schon offen. Doch wir zögern den Abschied hinaus, denn etwas Wichtiges ist ungesagt geblieben. Nur dass eben die Tür schon offen steht und man darauf wartet, dass wir …«
Er erhob sich. Er kippte den nicht getrunkenen Tee zum Fenster hinaus und nahm sein elegantes, faltenloses Jackett vom Haken. »Gehen wir.«
»Es war ein guter Lum«, flüsterte Ywha. »Und er hat sich seinen Trost kaum etwas kosten lassen. Jedenfalls hat er gesagt, unsere Schuld existiere nur in unserer Einbildung und wir sollten uns nicht mit ihr belasten.«
»Gehen wir, Ywha.«
Die Gänse lauerten vor der Tür auf den Großinquisitor. Mit einem Stock fuchtelnd ging Ywha voran. Die weißen Vögel schlugen mit den Flügeln und brachten das Gras zum Zittern – wie Hubschrauberrotoren. Klawdi stapfte an ihnen vorbei, gar nicht mehr daran denkend, dass er sich eigentlich vor ihnen fürchtete. In gewisser Weise war Ywha sogar enttäuscht. Vom Wagen trennten sie noch zwanzig Schritte … achtzehn, siebzehn …
»Ich habe das noch nie erlebt«, flüsterte Ywha. »Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich an Ereignisse erinnert, die dreißig Jahre zurückliegen … sich in dieser Weise erinnert. Ich habe die Märchen über die ewige Liebe nie geglaubt.«
»Du bist sentimental, Ywha.«
»Nein.«
»Doch. Das ist kein Märchen. Und es ist nicht lustig. Und vermutlich handelt es sich auch nicht um Liebe.«
»Sie können ruhig lachen, aber ich …«
Sie verstummte.
Eine sperrangelweit offen stehende, vernickelte Tür.
»Nieder mit dem Abschaum, Patron.«
Der Geruch von Wasser und Gras wich dem des aufgeheizten Autos. Der Fahrer drehte sich beflissen um. Klawdis Hand griff nach dem Telefon, überlegte es sich unterwegs jedoch anders. Vielleicht wollte der Großinquisitor die Rückkehr zu seinen Pflichten ja noch um ein paar Minuten hinauszögern. Nahezu beiläufig legte sich seine Hand auf die seiner Gefährtin. »Was wolltest du sagen, Ywha? Warum könnte ich über dich lachen?«
Sie schwieg und biss die Zähne zusammen. Ihre Hand wurde immer feuchter. Und heißer und geradezu nass. Hauptsache, Klawdi bemerkte das nicht.
Jetzt würde sie nichts mehr sagen.
Sie würde nicht zugeben, was sein Vertrauen ihr bedeutete. Dass alle Geheimnisse der Inquisition nichts waren im Vergleich zu dem seltsamen Geheimnis seines Lebens. Und wie sehr sie dieses Geheimnis respektierte.
10
Der junge Mann kam nicht aus Wyshna. Von dem Wohnheim aus, in dem er seit drei Tagen das harte Bett für Abiturienten bezogen hatte, bis zur Universität, wo ihm eine strenge Kommission die obligatorische Aufnahmeprüfung abnahm, brauchte er bei gemächlichem Tempo zwanzig Minuten zu Fuß. Da er in seiner Tasche jedoch eine Münze ertastete, ging er die Treppe zur Metro hinunter. Weder hatte er Geld zum Verprassen, noch musste er sich sonderlich beeilen – er konnte sich dieses Vergnügen einfach nicht verkneifen. Das unterirdische Königreich hatte in seinen Dorfalltag noch keinen Einzug gehalten, weshalb es ihn lockte und verführte: eine Attraktion darstellte.
Während er die breite, feuchte Treppe nahm, wusste er noch nicht, dass er durch die Prüfungen fallen würde. Und, was noch unglaublicher schien, dass er nie wieder in seinem Leben den Mut finden würde, eine Metro zu besteigen. Dass er in eine entlegene Kleinstadt ziehen würde, in der es selbst in Jahrzehnten niemandem in den Sinn käme, unter der Erde Schienen zu verlegen. Dort würde er geruhsam als Buchhalter arbeiten und schließlich glücklich und zufrieden leben – sah man einmal von jenen Nächten ab, in denen ihn Albträume heimsuchten und er im fernen Gebrumm der Eisenbahn das Rattern unterirdischer Räder zu erkennen glaubte.
Der junge Mann wusste noch nicht, dass die heutige Fahrt mit der Metro sein Schicksal ändern würde. Sorglos kaufte er sich ein quadratisches Ticket, das er in den Spalt des Entwerters führte.
Auf dem Bahnhof wimmelte es von Menschen. Nach zehn Sekunden fuhr die graue Metro ein, die geschäftige Menge strömte durch die offenen Türen; der junge Mann hielt gar nicht erst nach einem Sitzplatz Ausschau – es waren ohnehin sämtliche Plätze besetzt –, sondern drückte sich sofort gegen die geschlossene Glastür, die zur Fahrerkabine führte. Er hatte Glück. In die beige Farbe, mit der die Scheibe getüncht war, hatten irgendwelche Rowdys einen Spalt eingeritzt, durch den er gleich sehen würde, wie die
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