Das Jahrhundert der Hexen: Roman
die kaum noch schmerzte, die inzwischen kaum mehr als ein schönes Bild war …
Nur mit Mühe öffnete er die Augen wieder.
Ywha fror, und das T-Shirt, das sie über den feuchten Körper gestreift hatte, klebte an ihrer Brust. Sie brauchte nur kurz, um sich über den ärgerlichen Umstand klar zu werden, dann drehte sie sich um und zerrte den nassen Saum herunter. Klawdi bekam unterdessen ihre wirren roten Haare zur Ansicht geboten.
Der Geruch. Der Geruch nach Weiden und Tannennadeln. Diese helle Welt, die mit ihren leuchtenden Farben an eine Halluzination erinnerte. Das Bergmassiv, dieses erstarrte, blau befellte Tier.
Wie sehr es ihn damals erstaunt hatte, dass die Berge unterschiedliche Farben hatten. Dass sie fließend die Farbe wechselten und die Schatten der Schäfchenwolken einfingen.
Eine weiße Herde war den Hang hinuntergetrottet wie ein Fluss aus Milch. Rücken an Rücken, lauter lockige Schafsrücken und dann das Gebimmel von Glöckchen, jedes Tier hatte eins …
Djunka.
Auf den waldbewachsenen Hängen hatten die Schatten der Wolken gelegen.
Ein Schafsfluss.
Djunkas Lippen.
Wortlos hatten die Berge seine, Klawdis, Wahrheit bestätigt.
Sie hatten ihren Kuss als Teil der großen Welt anerkannt, sie den Spechten und Flüssen, den weißen Rücken der Schafe, den weißen Bäuchen der Wolken, den Seen, diesen Silbermünzen in grünen Feldern, und auch den Holzbalken gleichgestellt, die in den Boden gerammt und mit der Zeit nachgedunkelt waren.
Klawdi presste die Finger zusammen, bis es schmerzte.
Er bedauerte, nicht ein einziges Foto von Djunka aufgehoben zu haben. Nicht ein einziges von den Hunderten, den kleinen und großen, matten und hochglänzenden, farbigen und schwarzweißen, lustigen, traurigen, unscharfen und aussagelosen und offiziellen – wie das vom Schülerausweis. Alle waren weg. Ausnahmslos. Zehn Jahre nach ihrem Tod hatte er versucht, wenigstens eins aufzutreiben. Vergeblich. Djunka war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Selbst das Relief auf dem Grabstein hatte im Laufe der Jahre jede Ähnlichkeit mit dem Original eingebüßt, war stumpf geworden und von weißen Kalkstreifen überzogen. Das Gesicht konnte jeder x-beliebigen jungen Frau gehören – nur nicht jener Djunka, an die sich Klawdi Starsh erinnerte.
Aber wer sagte denn, dass seine Erinnerung zutraf?
Es hatte eine Zeit gegeben, da wollte er sich überhaupt nicht an sie erinnern. Ein paar Jahre hatte er ganz aus seinem Leben gestrichen, den Studienort gewechselt und Wyshna für eine Weile verlassen. Die Zeit mit Djunka hatte es nicht mehr gegeben, der Bildschirm seiner Erinnerung hatte in unerschütterlichem Grau geflackert. Sein Wunsch war derart dringend, sein Wille so unbezwingbar gewesen, dass er es fertiggebracht hatte, sich in eine Art Amnesie hineinzusteigern. Später, als er die Erinnerung an Djunkas Gesicht wieder zugelassen hatte, hatte er darunter gelitten, die ihm liebsten Details nicht mehr rekonstruieren zu können.
Bedauerlicherweise war auch nicht das allerkleinste Foto in den Spalt zwischen Wand und Sofa gerutscht. Bedauerlicherweise hatte ihre gesamte Verwandtschaft Wyshna verlassen; Klawdi hatte ihre Spur nie wieder aufnehmen können.
Vielleicht war all das kein Zufall gewesen. Er hatte sich zwei schwerer Verbrechen schuldig gemacht, indem er erst eine Njawka in die Welt der Lebenden gerufen und sie dann ihren Henkern ausgeliefert hatte. Vielleicht war ihm zur Strafe jede Erinnerung geraubt worden. Vielleicht hatte er deshalb um Verzeihung bitten und büßen müssen.
Er erschauderte. Ywha blickte ihn offen an, und tief in ihren stets wachsamen Augen stand eine diffuse Unruhe. Sie witterte seinen Stimmungswechsel und konnte nicht verstehen, in welchen Brunnen seine Seele da plötzlich gefallen war.
Ein Stimmungswechsel, der in Wahrheit ein Schicksalswechsel war.
Weit entfernt, hinter den Wänden dieser trägen sonnigen Stille, im unsagbar fernen Inquisitionspalast, tobte der von seinen Vollmachten erdrückte Hljur. Kuratoren schossen durch große und kleine Straßen, schickten verzweifelte Depeschen nach Wyshna, fielen der Hysterie zum Opfer und fluchten auf den Großinquisitor, der unterdessen auf einem durchgefaulten Steg saß und auf eine junge Frau mit Gänsehaut schaute.
»Ist dir immer noch kalt, Ywha?«
»Klawdi.« Sie lächelte beinah. »Ich habe eine Bitte an Sie. Wenn … falls es ganz schlimm wird … und das könnte ja passieren … dann sagen Sie doch bitte einfach
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