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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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geschlossenen Lippen lachen. Das war kein offenes Lachen, sondern ein triumphierendes, spöttisches, genussvolles Geräusch, von dem alle im Zug – angefangen von einem Welpen, den ein pummeliger, sommersprossiger Junge unter seinem T-Shirt transportierte, bis hin zum Fahrer, der die stolze Bezeichnung Siebenundzwanzig trug –, all diese Menschen und Tiere, den jungen Mann eingeschlossen, in eine Panik gerieten, die an Wahnsinn grenzte.
    Selbst der Tunnel hatte solche Geräusche noch nicht gehört. Einen derart verzweifelten Schrei. Das Klirren splitternden Glases. Die stärksten, mit dem virulentesten Selbsterhaltungsinstinkt ausgestatteten Männer schafften es, ein paar Fenster einzuschlagen, Frauen und Kinder zur Seite zu drängen und dem geschlossenen Waggon zu entkommen – nur, um prompt unter die Räder zu geraten, da sich der Zug gerade wieder in Bewegung setzte.
    Das Gelächter erstarb nicht. Es hallte aus allen Lautsprechern, um auf dem Bahnhof die auf den Rolltreppen stehenden Menschen zu bannen, ja, um sogar die Rolltreppen anzuhalten. Frauen in Uniform und Polizisten mit Funkgeräten wuselten herum, ohne zu wissen, wen sie eigentlich zu Hilfe rufen sollten. Die Menge, die in den einzelnen Stationen auf ihre Metro wartete, bildete eine Herde, die versuchte, sich so weit entfernt von der Bahnsteigkante wie nur möglich in Sicherheit zu bringen, denn alle Züge, die sich zu diesem Zeitpunkt in den Tunnels befanden, führten einen irrsinnigen, haltlosen Reigen auf.
    Der sich in die Ecke kauernde junge Mann – denn nur in der dunklen Ecke konnte er sich vor den Dutzenden von schweren Füßen retten – sah, wie die Bahnhöfe vorbeirauschten. Eine weiße Explosion, ein Tonwechsel im Lied der Leitungen und wieder ein Schrei, erneut ein Krachen, schließlich völlige Dunkelheit, denn das Licht in den Waggons war seit Langem schon erloschen. Menschen, die sich aneinanderklammerten. Der scharfe, beißende Geruch von Exkrementen. Und das Gelächter, das sogar dann in die Ohren drang, wenn man sie mit den Händen zuhielt. Ein Gelächter, das einem Demut abzwang. Das Gefühl, zum Tode verdammt zu sein. Dem Ende ins Auge zu blicken.
    Der »Vorfall in der Metro« dauerte zweiundzwanzig Minuten. Dann schnaubte die durch die Lautsprecher übertragene Frauenstimme verächtlich und verstummte. Verebbte.
    Als Einheiten der Zivilverteidigung in die Tunnel eindrangen, als die Feuer gelöscht und die Züge mit den zertrümmerten Scheinwerfern zu den Stationen abgeschleppt werden konnten und als die Tragen mit den Verletzten nach oben gebracht wurden, da strömte mit der Menge, die sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, auch ein Abiturient, ein Liebhaber der Metro, hinaus ins Freie, wo sich ein blauer Himmel über den heutigen, diesen verfluchten Tag spannte. Er stolperte durch die Straßen, ohne zu bemerken, dass seine Hosen nass waren. Seine Aussage, auf Video aufgezeichnet, bekam der Großinquisitor vierzig Minuten später zu sehen. Zusammen mit unzähligen anderen, die sich alle als gleichermaßen wirr und hilflos herausstellten.
    Morgen würde der junge Mann wieder nach Hause fahren.
    Binnen einer Woche würde er kahl wie eine Billardkugel sein. Aufgrund von Stress.
    Doch wenn man darüber nachdachte: Wozu brauchte ein Buchhalter eigentlich Haare?
     
    Schon seit dem frühen Morgen fühlte sich der alte Mann schlecht. Der Feiertag geriet in Gefahr. Immerhin war sein fünfjähriger Enkel, der bereits lautstarken Protest einlegen wollte, nach einem ernsten Gespräch mit seiner Mutter jetzt ruhig. Für den Jungen, dessen Kopf gerade mal über den Tisch ragte, bot sich damit zum ersten Mal in seinem Leben die Gelegenheit, zwei Umstände – »Ich will die Ballons sehen« und »Großvater ist krank« – bewusst gegeneinander abzuwägen, eine Wahl zu treffen, sich in sein Schicksal zu fügen und das Geplärr einzustellen. Das rührte den Alten, der sich daraufhin überwand, sich eine Tablette, die schon von Weitem nach Medikament roch, unter die Zunge schob und anschließend mit seinem Enkel einem nie zuvor erlebten Spektakel beiwohnte: dem traditionellen Ballonrennen.
    Noch am Vorabend hatten sie darüber spekuliert, ob das Rennen aufgrund der jüngsten Ereignisse in Wyshna abgesagt werden würde. Der Alte war sich ganz sicher gewesen, dass das nicht passieren würde. Zu viel Geld war in diesen Festtag geflossen, zu viel Geld stand hinter jedem einzelnen Werbeplakat, zu viele hoch geschätzte Länder hatten ihre

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