Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Schwarze, grau gesträhnte Haare fielen ihr wirr über die Schultern.
»Verräterin«, fauchte eine der Hexen.
»Die Verräterinnen seid doch ihr!« Die Frau mit dem wirren Haar hob die Arme. »Alle, die meinem Theater schaden … verfluche ich. Lebt auf ewig – mit diesem Fluch der Helena Torka!«
Diejenige mit der Pistole feuerte drei Schuss ab. Die Torka ging nicht zu Boden.
»Rina, du bist wie eine Tochter für mich. Sanija, du warst immer eine talentlose Tänzerin, daran wird auch die Initiation nichts ändern. Dona, dich habe ich aus dem Kinderheim rausgeholt. Klyza …«
Zwei weitere Schüsse krachten; damit war das Magazin leer. Aufschluchzend schleuderte die Schützin ihre Pistole gegen die Torka, die selbst jetzt nicht zu Boden ging.
»Ihr hab euern Weg gewählt, meine lieben Kinderchen. Jetzt lebt mit dem Fluch eurer Mutter.«
»Unsere Mutter ist noch gar nicht geboren!«, schrie die jüngste der Hexen mit zarter Stimme. Sie konnte höchstens vierzehn Jahre alt sein.
Ein Schlag folgte. Als hätte ihr jemand einen Knüppel über den Kopf gezogen, sackte Ywha nach Luft schnappend zu Boden. Das Mädchen, das von der noch ungeborenen Mutter gesprochen hatte, fiel lautlos hin. Diejenige, die die Torka des Verrats bezichtigt hatte, zischte wie eine verletzte Schlange. Starsh stand da, an die Wand gedrückt, und überzog mit seinem Willen ausnahmslos alle anwesenden Hexen, die jungen wie die alten, die aktiven wie die tauben. Sogar Helena Torka geriet ins Straucheln.
»Keine rührt sich vom Fleck! Hier spricht die Inquisition!«
Wurde auch höchste Zeit, dachte Ywha, die spürte, wie ihr Bewusstsein wegwaberte.
Ein Schrei zerriss den Raum, dem Kopfschmerz folgte. Die Pistolenschützin wurde an den Haaren fortgezogen. Ein Dutzend grobschlächtiger Kerle stürmte herein. Und dann auch ein zweiter Inquisitor, der mit dem gelben Gesicht. Die Hexen … Ein zarter Gesang erklang in Ywhas Ohren, ähnlich dem Surren einer Mücke.
Helena Torka hielt sich noch immer auf den Beinen. Ihr dunkles Kleid färbte sich plötzlich schwarz, auf der Brust wirkte es sogar wie lackiert.
»… einer alten Frau … Pflicht … Nie hätte ich gedacht, dass mein Scheiterhaufen einmal …«
»Helena.«
»Klawdi, bitte, ich würde so gern … es ist mein letzter Wille … wenn Sie so wollen …«
Dann verlor Ywha das Bewusstsein. Endgültig.
»Jede Kreatur hat ihre Bestimmung. Sinnlos ist nur der Mensch. Auf der Suche nach einem inneren Gleichgewicht erdenkt sich der Mensch einen Sinn, der ihn von der Hexe unterscheidet. Die Hexe ihrerseits ist die Verkörperung der Sinnlosigkeit, sie ist frei bis zum Absurden, spontan und ungestüm, ihr Tun ist nicht vorhersagbar. […] Eine Hexe kennt weder Liebe noch Zuneigung, weshalb man sie nicht für sich einnehmen, sondern sie nur töten kann. […] Eine Menschheit ohne Hexen gliche freilich einem Kind, das alle kindlichen Launen vermissen lässt und nur der Rationalität und dem Zynismus das Wort redet. Eine Menschheit, die den Hexen ihren freien Willen ließe, gliche hingegen einem geistig zurückgebliebenen Kind, das sich keine Sekunde zu konzentrieren vermag und einzig seinen Albereien nachgeht.
Sie werden fragen, ob die Hexen nach der Weltmacht verlangen? Da kann ich Ihnen nur ins Gesicht lachen: Hexen wissen nicht einmal, was Macht ist. Die Macht nämlich unterdrückt nicht nur die Untertanen, sondern auch die Herrscher. Hexen, die aufgrund einer Laune der Natur in den Körpern von Menschen leben, werden bereits durch das Vorhandensein von Menschen unterdrückt. Hexen werden gequält und eingeschränkt allein durch die Tatsache, dass sie inmitten von Menschen zu leben haben. Unsere Welt ist nicht für sie gemacht. Eine Hexe, die den alten Bräuchen anhängt, versucht demzufolge, ihre Umwelt zu schädigen. Eine leere Welt für eine einzelne Hexe, das wäre die Bedingung, unter der sie angemessen leben könnte.
[…] Die Erde wäre eine Ödnis, begraben unter Ruinen, wenn sich alle Hexen dasselbe Ziel steckten. Da jedoch glücklicherweise jede Gemeinschaft Zwang bedeutet …
[…] Sie werden mich fragen, ob der namenlose Verfasser der viel zitierten Entdeckung der Wespen recht hat? Trifft es zu, dass eine Schar vereinzelter Hexen zu einer eisernen Armee wird, sobald die Mutterhexe geboren wird?
Vernachlässigen wir an dieser Stelle ruhig die Geschichte. Nehmen wir stattdessen den Deckel vom Bienenstock und fragen uns, wozu die Bienenkönigin existiert und wie häufig
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