Das Jahrhundert der Hexen: Roman
sie vorkommt. Und fragen wir uns auch: Ist eine Art noch lebensfähig, wenn die Mutter nur alle fünfhundert Jahre einmal geboren wird?«
Lautlos öffnete sich die Tür. Ywha hob den Kopf. Die abrupte Bewegung ließ sie wieder schwindeln, alles verschwamm ihr vor den Augen. Aus dem Büro trat der gelbgesichtige Inquisitor, derjenige, der den Einsatz in dem brennenden Theater geleitet hatte. Der Inquisitor war nicht böse. Seine anderen Gefühle versuchte Ywha gar nicht erst einzuordnen. Er war nicht böse, das reichte ihr.
Wie sehr das Herz dieser Schrecken gebietenden Inquisition doch einem gewöhnlichen Polizeirevier glich. Diszipliniert und ordentlich ausgestattet, letztlich aber doch bloß ein Revier. Und sie hatte sich bisher immer gefürchtet, das Gebäude zu betreten. Jetzt saß sie auf einem Sofa und hielt ein dickes Buch auf den Knien.
Eine Zeit lang war es still im Vorzimmer. Irgendwann kam der Arzt aus dem Büro. Der Referent, dessen Gesicht das hellblaue Licht eines eingeschalteten Computerbildschirms verschattete, sah ihn fragend an. Der Arzt nickte.
»Kann ich vielleicht …«, Ywha rutschte auf dem Stuhl hin und her, »… reingehen?«
»Man hat Sie nicht aufgerufen«, erklärte der Referent kalt. Dann dachte er kurz nach. »Sie sollten da nicht hineingehen«, fügte er sanfter hinzu. »Dort gibt es Geständniszeichen, das gefällt Hexen nicht sonderlich gut.«
»Männer denken höchst selten darüber nach, was Hexen gefällt«, konterte Ywha unerschrocken, »weshalb es ausgesprochen angenehm, wenn auch höchst selten ist, ihre Sorge zu genießen.«
Sie holte Luft und genoss den Anblick des entgeisterten Referenten.
»Männer denken überhaupt selten«, sagte eine männliche Stimme aus der Gegensprechanlage. »Sei so gut, Ywha, und gedulde dich noch eine Viertelstunde.«
Jetzt war es an ihr, bestürzt dreinzuschauen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass jedes Wort, das im Vorzimmer geäußert wurde, im Büro zu hören war. Der Referent, nunmehr gerächt, bedachte sie mit einem amüsierten Blick. Seufzend wandte sich Ywha wieder dem aufgeschlagenen Buch zu.
»Es ließe sich völlig zu Recht einwenden: Hexen haben keine Nachkommen. Selbstverständlich können Hexen Kinder in die Welt setzen, zumeist Mädchen. Doch entfällt auf geschlechtsreife Hexen der gleiche Anteil junger Hexen wie auf alle sonstigen Frauen. […] Warum blieb der Hexenbestand dann in all den Jahrhunderten nahezu konstant? Oder, um es präziser zu formulieren: Warum folgt auf einen sprunghaften Anstieg ihrer Zahl ein Tief, bei dem es nur wenig Hexen gibt und die Initiation zu einem Relikt mutiert? Warum folgen auf stürmische und schwere Zeiten, auf Kriege und Katastrophen Phasen der Stagnation, in denen sogar die Kunst und das Handwerk in sanften Schlummer fallen? Das zu verstehen kommt der Schwierigkeit gleich, einem Erstklässler zu erklären, warum selbst dem strengsten Winter immer ein Tauwetter folgt.«
»Aus allen Büchern, die dir zur Verfügung stehen, hast du dir ausgerechnet das langweiligste ausgesucht. Liebst du etwa die langen, schönen Sätze so sehr?«
Der Inquisitor kam quer durch das Vorzimmer. Er bewegte sich irgendwie anders als sonst. Schon im nächsten Moment war Ywha klar, warum. Er passte auf seinen linken Arm auf, war vorsichtig. Selbst das helle, legere Jackett konnte nicht über seinen achtsamen Gang hinwegtäuschen.
Außerdem hatte er heute Morgen doch noch eine Jacke getragen. Eine elegante Sommerjacke, an die sich Ywha gut erinnerte, schließlich hatte sie das Gesicht in diese Jacke vergraben.
Also waren seinen Sachen verhunzt. Vermutlich hatte die Jacke ein Loch. Ein Blutfleck war mit Sicherheit zurückgeblieben – und den bekam man nicht so leicht raus.
»Myran«, wandte sich der Inquisitor an den Referenten. »Rufen Sie in der Werkstatt an. Falls mein Wagen repariert ist, sollen sie ihn zu mir nach Hause bringen. Wir nehmen den Hinterausgang, Ywha. Wozu Aufsehen erregen?«
Sie traten durch eine völlig versteckt gelegene Seitentür des Inquisitionspalasts hinaus. Vorm Haupteingang standen Menschen. Ywha fuhr zusammen; sie meinte, in der Luft liege Brandgeruch. Nein, sie hatte sich getäuscht.
Sie selbst war es, die immer noch nach Rauch roch. Und wie sie aussah! Aber vor allem dieser Geruch!
Es ging auf elf zu. Gelbe Scheinwerfer beleuchteten effektvoll den spitzen Giebel des Palasts. Ywha schwindelte. Sowohl die Nacht als auch der beleuchtete Giebel hörten kurz auf zu existieren,
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