Das Jahrhundert der Hexen: Roman
liebe?«
Der Lum hob den Blick. Als Klaw diesen auffing, fröstelte ihn – und er erkannte seinen Fehler. Wenn der Alte auch nur entfernt etwas mit dem Tschugeister-Dienst zu tun hatte …
Sein Gegenüber verstand nur allzu gut. Die nächsten Minuten maßen sich der Alte und der Junge mit Blicken.
»Ich bin nur ein Lum«, brachte der Alte zögernd heraus. »Ich tu, was ich kann … Mehr nicht. Unterstell mir also nichts … Ich bin nur ein Lum.«
»Sie haben gesagt …«, Klaw holte Luft, »… ich würde etwas Verbotenes tun. Ich würde sie wecken und festhalten, und ich wäre … stark genug, um … und …«
Die Frage traute sich nicht über seine Lippen.
»Genaues weiß ich nicht«, erklärte der Alte, den Blick nach vorn gerichtet, dorthin, wo unzählige kleine Vögel durch die grünenden Zweige schossen. »Vielleicht hast du sie erst hergeholt … Vielleicht auch nicht. Das weiß niemand.«
»Weshalb kommen sie zu uns?«, fragte Klaw mit Flüsterstimme. »Kommen … sie wegen uns? Sind … sind das wirklich sie ?«
Nachdem er seine vagen, ihn beschämenden Ängste in Worte gekleidet hatte, fühlte er sich erleichtert. Immerhin hatte er das geschafft. Die entscheidende Frage war gestellt.
»Ich kann dir nicht mehr sagen, als ich weiß«, erklärte der Alte bedauernd. »Ich kann dir nicht mal alles sagen, was ich weiß. Das wäre … zu persönlich …«
»Wollen sie unseren Tod?«, fragte Klaw rasch. »Kann das wirklich sein? Die Tschugeister sagen …«
Er verstummte. Dieses Wort hätte er sich verkneifen sollen, an die wollte er gar nicht denken.
»Schon möglich«, erwiderte der Alte, der den Blick nur mit Mühe von dem Spiel der Vögel losriss. »Das ist … zu individuell … Aber ich will nicht, dass du hier weiter herkommst. Das klingt vermutlich brutal, aber du hast es selbst so gewollt. Komm nicht mehr auf den Friedhof. Oder ich rufe … sie. Selbst wenn ich auch nicht gerade viel für sie übrig habe.«
»Aber nur Sie können mir … helfen … mir sagen …« Klaw redete nur, um nicht zu schweigen. Er hatte bereits verstanden, wie sinnlos seine Worte waren.
»Pass auf dich auf«, mahnte der Lum. »Das ist alles, was ich dir sagen kann.«
Damit stand er auf, schlagartig gealtert, und ging fort und bot seinen gekrümmten Rücken den Meisen als Landefläche an.
Klawdi wusste, dass kaum Hoffnung auf Schmerzlinderung bestand. Seit seiner Zeit als Inquisitor im Außendienst schlugen Schlaftabletten oder Schmerzmittel bei ihm nicht mehr an. Schmerzen musste er mit Willenskraft überwinden – nur konnte er sich momentan auf Teufel komm raus nicht konzentrieren.
Der Schmerz rührte nicht von der verletzten Hand her. Nein, er saß irgendwo tief in seinem Innern, ein niedergehaltener, immer wieder zusammengestauchter Schmerz. Klaw durfte nicht an ihn denken.
Die Augen der jungen Frau funkelten im Halbdunkel der Diele; die Haare, die über die Schultern fielen, erinnerten an Kupferdraht. Sie verfügte über eine ausgezeichnete Abwehr. Bislang hatte er noch nie eine Hexe getroffen, die derartige Ereignisse so gelassen hinnahm. Gut, vor dem Inquisitionspalast wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Weshalb sie seinen verletzten Arm ja auch so gequetscht hatte. Nebenbei bemerkt: War der eigentlich wirklich verletzt?
Was für ein Verfall der Moral! Eine Hexe, die mit einer Schusswaffe auf einen Inquisitor losgeht. Noch vor zehn Jahren wäre ihnen das barbarisch vorgekommen; aber jetzt schreckten sie vor nichts zurück. Wo die eigenen Kräfte nicht reichten, griffen sie zur Pistole.
Vermutlich trug Ywha keine gute Wäsche. Folglich mussten die Formen, die sich unter dem blutdurchtränkten Pullover abzeichneten, ihre eigenen sein.
Nachdem sie seinen Blick auffing, schaute sie zu Boden. Ihm war ebenfalls unbehaglich zumute. Nicht weil er sie gemustert hatte – er hatte schon gepflegte Frauen gesehen und schlampige, Frauen in Brokatkleidern und in Lumpen und auch so, wie Mutter Natur sie geschaffen hatte.
»Herr Klawdi!«, rief die Haushälterin aus der Küche. »Ich verarbeite den Quark, der wird Ihnen sonst schlecht. Ich mache Ihnen daraus Küchlein. Reicht Ihnen eine Portion? Oder wollen Sie mehr?«
»Zwei«, antworte Klawdi, ohne sich umzudrehen.
Ywha seufzte mehrmals.
Julian ist doch ein Idiot, dachte Klawdi mit überraschender Härte. Ein echter Idiot! Sein Junge wird nie ein Mann werden. Aber natürlich hat das auch seine Vorteile – so ein gehorsamer Sohn.
Welche Zukunft Nasar
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