Das Jahrhundert der Hexen: Roman
wahrgenommen, war sie aufs Fensterbrett geklettert.
Das Büro der Direktorin ging zum Platz vor dem Haupteingang hinaus, wo sich Schaulustige zusammendrängten. Viele, weitaus mehr als Theaterbesucher, und mit jeder Sekunde wurden es noch mehr, denn kein Bühnenspektakel konnte sich mit dem Szenario messen, das sich zu diesem Zeitpunkt in der Wyshnaer Oper abspielte.
Das Fenster war fest verschlossen, die Scheibe aus Panzerglas. Vor wem hatte Helena Torka Angst? Vor Dieben? Oder etwa vor Scharfschützen?!
Ywha schlug mit einem massiven Briefbeschwerer zu. Anschließend wuchtete sie einen Stuhl hoch und schleuderte ihn ins Fenster. Der Geruch nach Rauch kroch unter der Tür durch und waberte aus den Ritzen der Klimaanlage. Ywha hätte nicht mal ihr feines Näschen haben müssen, um zu begreifen, dass es sich um den erstickenden Geruch eines Feuers handelte.
Auf den Platz fuhren, die Menge auseinandertreibend, nacheinander drei Feuerwehrwagen. Ihnen folgten zwei weitere. Das Theater brannte rasch nieder.
Ywha stürzte zur Tür. Sie rüttelte an der Klinke. Die Türflügel waren solide, offenbar bestanden sie aus Mahagoni. Mit einem anständigen Schloss versehen. Helena Torka musste unter Verfolgungswahn leiden, anders ließ sich all das nicht erklären.
Ywha spähte durchs Schlüsselloch. Tränen schossen ihr ins Auge. Das Vorzimmer war voller Rauch.
Erst da packte sie die Angst.
Die letzten Tage über war Angst auch schon ihre ständige Begleiterin gewesen. Aber nicht eine solche Angst. Eine Angst wie diese zwang dem menschlichen Körper nämlich jede Reaktion ab, selbst die unwürdigste und erniedrigendste. Ywha krümmte sich in einem Schmerz, der unterhalb ihres Bauchs brannte.
Das war er also, der Scheiterhaufen. Ein riesiger, Effekt heischender Scheiterhaufen in Gestalt eines brennenden Theaters. Zweihundert Jahre lang hatte auf dem Platz das solide Gebäude gestanden. Jetzt sollte Schluss damit sein. Und Ywha würde in ihrem neunzehnten Lebensjahr ihr Ende finden.
Aber derart idiotisch! Um sie herum wimmelte es von Menschen – und sie war hier eingesperrt! Wie eine Ratte! Bei lebendigem Leibe würde sie …
Sie warf sich gegen die Tür. Wieder und wieder. »Vollenden wir das Ritual, wie es unsere ungeborene Mutter befiehlt.«
Halluzinierte sie?
Ywha betrachtete ihre Handflächen. Die linke blutete, was jedoch nur von einem eingerissenen Nagel herrührte. Was sollte das? »Vollenden wir das Ritual, wie es unsere …«
»Das Pack herrscht nicht ewig. Nehmt die Kerzen …«
Ein riesiger dunkler Saal. Eine Wendeltreppe, ein heißes Feuer, offenbar gab es keine Mauern … nur eine endlose Ebene mit roten Bergen am Horizont … Unmengen roter Berge, die zwar greller waren als der dunkelgraue Himmel, aber ebenfalls im Rauch versanken … die Berge waren aufgemalt …
»Hilfe! Nasar! Nasar, rette mich, ich …«
»Das Pack flieht. Besser ein Brandherd als ein Scheiterhaufen. Schwestern, reichen wir uns die Hände …«
Ein Gelächter, das dir die Ohren verstopfte.
»Nasar! Rettet mich doch … Irgendjemand …«
Die Flügeltür krachte, flog auf. Rauchwolken wogten in den Raum. Und wie eine Erscheinung, wie ein immaterielles Gespenst Nasars kam …
Sofort schoss der Schmerz in sie hinein. So fühlte sich die Nähe eines wütenden Inquisitors an.
»Ywha?« Kräftige Hände packten sie unter den Achseln. Ihr wurde schwindlig. »Folge mir! Schnell!«
»Sie sind hinter der Bühne.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht.
»Was?!«
»Hinter der Bühne … da ist … ein großer Übungsraum … der zweite … sie initiieren … jetzt gerade …«
Klawdi stieß einen Fluch aus. Und noch einen, einen stärkeren und schlimmeren. Hustend versuchte Ywha, den Rauch aus den Lungen zu treiben.
Ein Mann mit einem flachen gelben Gesicht trat zu ihm, auch er ein Inquisitor und ebenfalls böse, außerdem Menschen mit Atemschutzmasken …
»Wo sind sie? Wo sind sie jetzt, Ywha?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir finden sie auch ohne ihre Hilfe, Patron«, meinte der Gelbgesichtige.
»Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass die Oper brennt?!«
»Die Operation leite ich … Patron! Nehmen Sie das Mädchen und verschwinden Sie!«
Eine sekundenkurze Pause. Zwei Inquisitoren sahen einander an, schließlich gab der Ranghöhere nach. »Ywha … lass uns gehen. Fall mir bloß nicht in Ohnmacht, du bist keine Elevin, dann könnte ich dich tragen …«
Gänge voller Rauch. Husten zerriss ihr die Brust. Als sie über
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