Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
Deutschland gibt es über fast alles Unterlagen. Wir sind ein akkurates, gewissenhaftes und bürokratisches Volk und verhalten uns manchmal so, als ob Aktenvermerke und Niederschriften das Wahrzeichen echter Zivilisation wären. Selbst wenn es um die systematische Ausrottung einer ganzen Menschenrasse ging, gab es Statistiken, Protokolle, Fotos, Berichte und Notizen. Hunderte, ja, vielleicht Tausende von Kriegsverbrechern hätten es vielleicht geschafft, der Verurteilung zu entgehen, wäre da nicht unsere Leidenschaft für Zahlen, Namen und Adressen gewesen. Zwar waren viele Unterlagen bei den alliierten Fliegerangriffen vernichtet worden, aber ich war mir sicher, dass ich Wolfgang Stumpffs Personalien irgendwo finden würde.
    Ich begann im Polizeipräsidium, versuchte es sowohl auf der Meldestelle als auch auf dem Passamt, fand aber keine Spur von ihm. Dann forschte ich im Innenministerium nach. Ich probierte es sogar bei Juristenorganisationen. Ich wusste, dass Stumpff aus München war und dass er Jura studiert hatte. So viel hatte mir der Baron selbst gesagt. Da es mir sehr unwahrscheinlich schien, dass er durch den Krieg gekommen war, ohne gedient zu haben, war meine nächste Anlaufstelle das Bayerische Staatsarchiv in der Arcisstraße. Dort lagerten Dokumente, die bis ins Jahr 1265 zurückreichten und überhaupt nicht beschädigt worden waren. Doch auch dort fand ich nicht mehr heraus, als dass das Bayerische Kriegsarchiv in die Leonrodstraße umgezogen war. Und da endlich fand ich, was ich suchte, in der Rangliste der bayerischen Offiziere. Alphabetisch aufgelistet, Jahr für Jahr. Es war ein registratorisches Prachtstück, handgeschrieben, mit lila Tinte. Hauptmann Wolfgang Stumpff von der Ersten Gebirgsdivision, vormals Bayerische Gebirgsdivision. Jetzt hatte ich einen Namen und eine Adresse und den Namen von Stumpffs Regimentskommandeur. Ja, sogar das Foto von Stumpff hatte ich mir ausgeliehen.
    Die Adresse im Münchner Stadtteil Haidhausen existierte nicht mehr, das Haus war am 13. Juli 1944 völlig zerstört worden. Jedenfalls stand das auf dem Schild an den Ruinen. Und da mir sonst nichts mehr einfiel, beschloss ich, den Nachmittag darauf zu verwenden, Straßenbahn zu fahren – nämlich mit der Drei, der Sechs, der Acht und der Siebenunddreißig, mit dem Foto ausgerüstet, dass ich aus Stumpffs Akte entliehen hatte. Doch vorher hatte ich noch eine Verabredung mit der Tochter des Barons, vor der Glyptothek.
    Helene Elisabeth von Starnberg trug einen knielangen beigefarbenen Rock, einen gelben Pullover, der gerade eng genug anlag, um einen wissen zu lassen, dass sie eine Frau war, und schweinslederne Autohandschuhe. Wir plauderten nett. Ich zeigte ihr das Foto, das ich im Militärarchiv hatte mitgehen lassen.
    «Ja, das ist er», sagte sie. «Er war natürlich viel jünger, als dieses Foto gemacht wurde.»
    «Noch nicht gewusst? Das Bild hier ist mindestens tausend Jahre alt. Das weiß ich, weil Hitler gesagt hat, so lange würde das Dritte Reich bestehen.»
    Sie lächelte, und einen Moment lang war es schwer zu glauben, dass sie einen Bruder hatte, der im tiefsten Loch der Hölle gewirkt hatte. Blond natürlich. Als wäre sie gerade vom Obersalzberg herabgestiegen. Wenn Hitler je eine Blondine wie Helene Elisabeth von Starnberg getroffen hatte, konnte man seine Vorliebe für blonde Frauen fast schon verstehen. Jedenfalls war sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Vielleicht tat ich ihr ja Unrecht, aber mein erster Gedanke in Zusammenhang mit ihr – dass sie bestimmt noch nie in einer Tram gesessen hatte – hielt sich hartnäckig. Ich versuchte, sie mir in einem öffentlichen Verkehrsmittel vorzustellen, aber es ging nicht. Es sah immer aus wie ein Diadem in einer Keksdose.
    «Sind Sie mit Ignaz Günther verwandt?», fragte sie.
    «Mein Ururgroßvater», sagte ich. «Aber bitte nicht weitersagen.»
    «Ist gut», sagte sie. «Er hat eine Menge Engel geschaffen, wissen Sie? Manche sind gar nicht schlecht. Wer weiß? Vielleicht entpuppen Sie sich ja als unser Engel, Herr Gunther.»
    Womit sie vermutlich den Engel derer von Starnberg meinte. Vielleicht lag es ja am schönen Wetter und an meiner guten Laune, dass ich mir die rüde Bemerkung verkniff, das ich wohl ein «schwarzer Engel» sein müsste, wenn ich bereit wäre, ihrem Bruder zu helfen. Aber wahrscheinlich schwieg ich einfach, weil sie das war, was die Leute ein Sahneschnittchen genannt hatten, als sie noch wussten, wie ein Sahneschnittchen

Weitere Kostenlose Bücher