Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
wenn man genau genug hinschaut.
    Fast wäre er mir entgangen, als er ausstieg. Die Bahn war voll gewesen. Er hatte intensive, dunkle Augen, eine hohe Stirn, einen schmalen Mund, ein Kinngrübchen und eine Nase, die irgendwie hündisch wirkte, weil er sie trug, als folgte er einer Geruchsspur. Er erinnerte mich sehr an den Sänger Georg Jacoby, und einen Moment lang rechnete ich schon halb damit, dass er gleich «Die Frau meiner Träume» schmettern würde. Aber Wolfgang Stumpffs besonderes Merkmal war kaum zu übersehen. Ihm fehlte ein Arm.
    Ich stieg ebenfalls aus und folgte ihm in den Holzkirchner Bahnhof. Wir nahmen einen Vorortzug nach München-Mittersendling. Er ging etwa eineinhalb Kilometer die Zielstattstraße entlang, zu einem netten, modernen Haus am Rand eines Wäldchens. Ich beobachtete das Haus noch kurz und sah, wie in einem der oberen Zimmer Licht anging.
    Mir war es egal, ob Vincenz von Starnberg zwanzig Jahre in Landsberg saß oder nicht. Von mir aus konnten sie ihn in seiner Zelle aufhängen, mit Gewichten an den Füßen. Mich kümmerte es nicht, ob der alte Starnberg an gebrochenem Herzen starb. Also war es mir auch egal, ob Stumpff bereit war, seinem alten Studienfreund ein Charakterzeugnis auszustellen oder nicht. Aber ich klingelte trotzdem. Obwohl ich mir geschworen hatte, es nicht zu tun. Ich würde mich nicht für den SS-Sturmbannführer von Starnberg ins Zeug legen. Und auch nicht für seinen Vater, den Baron. Oh, nein, nicht mal für tausend Mark. Aber ich hatte nichts dagegen, mich für das Sahneschnittchen ins Zeug zu legen. In den hellblauen Augen der Helene Elisabeth von Starnberg so eine Art Engel zu sein – damit konnte ich leben.

6
    Drei Tage später erhielt ich einen Scheck über eintausend D-Mark, zu Lasten des Privatkontos des Barons. Es war eine ganze Weile her, dass ich das letzte Mal selbst eine nennenswerte Summe verdient hatte, und so ließ ich den Scheck zunächst auf meinem Schreibtisch liegen, wo ich ihn im Blick hatte. Ab und zu nahm ich ihn mir vor, studierte ihn nochmal und sagte mir, dass ich wirklich wieder im Geschäft war. Das gute Gefühl hielt etwa eine Stunde an.
    Dann klingelte das Telefon. Es war Dr.   Bublitz vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Er erklärte mir, Kirsten sei krank. Begonnen habe es mit Fieber, aber inzwischen habe sich ihr Zustand so verschlimmert, dass sie in die Poliklinik, Nähe Sendlinger-Tor-Platz, verlegt worden sei.
    Ich rannte nach draußen, sprang in eine Tram, eilte dann durch den Nussbaumpark zur Frauenklinik in der Maistraße. Die sah wie eine Mischung aus Baustelle und Ruine aus. Ich ging durch ein Vorwerk von Zementmischmaschinen, um einen Wall aus Bauholz und -steinen und die Treppe hinauf. Baustellenstaub knirschte unter meinen Schuhsohlen. Monotones Hämmern hallte durch das Treppenhaus, als ob irgendwo ein prähistorischer Specht ein Loch in einen riesigen Baumstamm hackte. Draußen lieferten sich gerade zwei Presslufthämmer die Entscheidungsschlacht um das letzte Schützenloch Münchens. Irgendjemand bohrte in den Zähnen eines äußerst geduldigen Riesen, während jemand anderes dessen noch geduldigerer Frau ein Bein absägte. In den Hof draußen platschte Wasser wie in einer unterirdischen Höhle. Ein kranker Bergmann oder verletzter Stahlarbeiter hätte hier vielleicht Ruhe und Frieden gefunden, aber für jeden, der noch intakte Trommelfelle hatte, war die Frauenklinik mit all ihren offenen Fenstern eine Lärmhölle.
    Kirsten lag in einem kleinen Einzelzimmer, das vom Krankensaal abgetrennt war. Sie war fiebrig und gelb. Ihr Haar klebte am Kopf, als hätte sie es gerade gewaschen. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Atem ging schnell und flach. Sie sah sehr krank aus. Die Schwester, die bei ihr war, trug einen Mundschutz. Ein Mann im weißen Kittel tauchte hinter mir auf.
    «Sind Sie der nächste Angehörige?», blaffte er mich an. Er war untersetzt, mit Mittelscheitel und Nickelbrille, einem Hindenburgschnurrbart, einem steifen Kragen und einer Fliege, die aussah wie die Schleife von einer Pralinenschachtel.
    «Ich bin ihr Ehemann», sagte ich. «Bernhard Gunther.»
    «Ehemann?» Er forschte in seinen Unterlagen. «Fräulein Handlöser ist verheiratet? Davon steht hier nichts.»
    «Der Hausarzt hat es bei der Einweisung ins Max-Planck vergessen», sagte ich. «Vielleicht hatten wir ihn nicht zur Hochzeit eingeladen, keine Ahnung. So was kommt vor. Hören Sie, können wir das einfach mal beiseitelassen? Was

Weitere Kostenlose Bücher