Das Janusprojekt
fehlt ihr?»
«Ich fürchte, wir können es nicht beiseitelassen, Herr Gunther», sagte der Arzt. «Ich muss mich an die Bestimmungen halten. Über Fräulein Handlösers Zustand darf ich nur mit den nächsten Angehörigen sprechen. Haben Sie vielleicht Ihre Heiratsurkunde dabei?»
«Nein, dabei nicht», sagte ich geduldig. «Aber ich bringe Sie das nächste Mal mit. Wie wäre das?» Ich schwieg einen Moment und ließ eine indignierte Musterung über mich ergehen. «Da gibt es niemanden außer mir», setzte ich hinzu. «Ich versichere Ihnen, dass sie sonst niemand besuchen wird.» Ich wartete. Nichts. «Und wenn Sie immer noch Bedenken haben, dann beantworten Sie mir eine Frage. Wenn sie unverheiratet ist, warum trägt sie dann einen Ehering?»
Der Arzt lugte um mich herum. Als er den Ehering an Kirstens Finger sah, forschte er wieder in seinen Unterlagen, als könnte sich dort ein Hinweis auf das korrekte Procedere finden. «Das verstößt wirklich völlig gegen die Vorschrift», sagte er. «Aber in Anbetracht ihres Zustands werde ich mich wohl auf Ihr Wort verlassen müssen.»
«Danke, Herr Doktor.»
Er schlug die Hacken zusammen und nickte mir knapp zu. Ich gewann allmählich den Eindruck, dass er seine ärztliche Ausbildung an einem preußischen Krankenhaus gemacht hatte, irgendwo, wo sie Knobelbecher anstelle von Stethoskopen ausgaben. Aber deutsche Ärzte fühlten sich immer schon auf einer Stufe mit Gott. Wahrscheinlich war es sogar noch schlimmer. Wahrscheinlich hielt Gott sich für einen deutschen Arzt.
«Ich bin Dr. Effner», sagte er. «Ihre Frau ist sehr krank. Ernstlich krank. Es steht nicht gut um sie. Gar nicht gut, Herr Gunther. Sie wurde in der Nacht hierherverlegt. Und wir tun unser Bestes. Da können Sie ganz sicher sein. Aber meiner Meinung nach sollten Sie sich auf das Schlimmste gefasst machen. Es kann sein, dass sie die Nacht nicht übersteht.» Er sprach in kurzen, heftigen Salven, wie Geschützfeuer, so als hätte er seine ärztlichen Umgangsformen in einer Messerschmitt 109 gelernt. «Wir erleichtern es ihr natürlich. Aber was in unserer Macht steht, haben wir getan. Verstehen Sie?»
«Soll das heißen, sie könnte sterben?», fragte ich, als ich endlich Gelegenheit hatte, zurückzufeuern.
«Ja, Herr Gunther», sagte er. «Das soll es heißen. Sie sehen ja, ihr Zustand ist kritisch.»
«Was in aller Welt hat sie denn?», fragte ich. «Ich war doch erst vor ein paar Tagen hier, und da schien es ihr so weit gutzugehen.»
«Sie hat Fieber», sagte er, als wäre das Erklärung genug. «Hohes Fieber. Wie Sie selbst sehen, obwohl ich Ihnen raten würde, nicht zu nah heranzugehen. Die Blässe, die Kurzatmigkeit, die Anämie, die geschwollenen Drüsen – das alles bringt mich zu der Annahme, dass es eine schwere Grippe ist.»
«Grippe?»
«Alte Leute, Obdachlose, Gefangene, Menschen, die in Institutionen untergebracht sind, oder Geistesschwache wie Ihre Frau sind extrem anfällig für das Grippevirus», sagte er.
«Sie ist nicht geistesschwach», sagte ich und funkelte ihn finster an. «Sie ist depressiv. Das ist alles.»
«Das sind Fakten, Herr Gunther, reine Fakten», sagte Dr. Effner. «Erkrankungen der Atemwege sind die häufigste Todesursache bei Geistesschwachen. Über Fakten ist nun mal nicht zu streiten.»
«Ich würde sogar mit Platon streiten, Herr Doktor», sagte ich und biss mir auf die Lippe, was mich davon abhielt, Effner an die Gurgel zu gehen. «Vor allem, wenn die Fakten falsch wären. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht mit solcher Inbrunst vom Tod sprechen würden. Noch ist sie nicht tot, falls Ihnen das entgangen ist. Aber vielleicht sind Sie ja auch einer von den Ärzten, die Patienten lieber studieren als kurieren.»
Dr. Effner atmete tief durch geblähte Nüstern ein, richtete sich – falls das überhaupt möglich war – noch straffer auf und schwang sich auf ein Ross von mindestens zwei Meter Stockmaß. «Wie können Sie es wagen, so etwas zu insinuieren», sagte er. «Schon der bloße Gedanke, meine Patientinnen lägen mir nicht am Herzen. Das ist empörend. Absolut empörend. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, für – Fräulein Handlöser . Guten Tag, Herr Gunther.» Er sah auf seine Armbanduhr, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Ihm einen Stuhl hinterherzuwerfen, hätte mich vielleicht erleichtert, aber es hätte Kirsten und den anderen Patientinnen nicht geholfen. Auf dieser Baustelle war es schon laut
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