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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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aussah.
    «Da drüben im Bürgersaal ist eine schöne Schutzengelgruppe von Ignaz Günther», sagte sie und zeigte über den Königsplatz. «Irgendwie hat sie die Fliegerangriffe überstanden. Sie sollten sie sich bei Gelegenheit mal ansehen.»
    «Mach ich», sagte ich und trat beiseite, als sie die Tür ihres Porsche öffnete und einstieg. Sie winkte mit einer adrett behandschuhten Hand hinter der geteilten Windschutzscheibe, jagte den Vier-Zylinder-Boxermotor hoch und schoss dann davon.
    Ich überquerte den Karlsplatz und den Stachus, Münchens Hauptverkehrsknotenpunkt, benannt nach einem Wirtshaus, das hier einmal gestanden hatte. Ich ging durch die Neuhauser Straße zum Marienplatz. Diese Gegend war im Krieg schlimm zerbombt worden. Unter den Baugerüsten hatte man Schutzgänge für Fußgänger angelegt, und die vielen Lücken zwischen den beschädigten Häusern füllten provisorische Ladenbaracken. So eingerüstet wirkte der Bürgersaal etwa so interessant wie eine leere Bierflasche. Wie alles in diesem Teil von München wurde auch die Kirche wiederaufgebaut. Immer wenn ich in der Innenstadt umherspazierte, beglückwünschte ich mich dazu, dass ich den größten Teil des Jahres 1944 mit General Ferdinand Schorners Armee in Weißrussland verbracht hatte. München hatte es hart getroffen. Die Nacht des 25. April 1944 war eine der schlimmsten in der Geschichte der Stadt gewesen. Die Kirche war weitgehend ausgebrannt. Der Hochaltar war vernichtet worden, aber Günthers Skulpturen hatten die Angriffe irgendwie überstanden. Mit ihren rosigen Wangen und zierlichen Händchen entsprachen sie allerdings kaum meiner Vorstellung von Schutzengeln. Sie wirkten eher wie käufliche Knaben aus einem Badehaus in Bogenhausen. Ich glaubte nicht, dass ich von Ignaz abstammte, aber wer hätte das nach zweihundert Jahren mit Bestimmtheit sagen können? Mein Vater war sich nie ganz sicher gewesen, wer seine Mutter war, von seinem Vater ganz zu schweigen. Aber wie auch immer, ich hätte die Engelgruppe anders gestaltet. Für mich musste ein Schutzengel schon effizienter gerüstet sein als nur mit einem hochmütigen Lächeln, einem elegant abgespreizten kleinen Finger und der Himmelspforte im Blick, für den Fall, dass er Rückendeckung brauchte. Aber das war meine persönliche Meinung. Auch jetzt noch, vier Jahre nach Kriegsende, war mein erster Gedanke morgens beim Aufwachen, wo ich meinen KAR 98 gelassen hatte.
    Nachdem ich die Kirche besucht hatte, stieg ich in eine Sechs hinunter zum Karlsplatz. Ich mag Straßenbahnen. Man braucht nicht zu tanken, und man kann sie jederzeit in einer finsteren Nebenstraße stehenlassen. Straßenbahnen sind etwas Großartiges, wenn man sich kein Auto leisten kann, und im Sommer 1949 konnte das kaum jemand außer den Amerikanern und dem Baron von Starnberg. Außerdem bringen einen Straßenbahnen genau dahin, wo sie einen hinbringen sollen, vorausgesetzt man ist so schlau und nimmt eine, die ungefähr dahin fährt, wo man hinwill. Ich hatte keine Ahnung, wo Wolfgang Stumpff hinwollte oder wo er herkam, aber ich sagte mir, dass die Wahrscheinlichkeit, ihn zu sehen, auf diesen Linien größer war als auf anderen. Detektivarbeit erfordert nicht immer ein Gehirn wie das von Wittgenstein. Ich fuhr mit der Sechs bis zum Sendlinger-Tor-Platz, stieg dort aus und nahm eine Acht in die Gegenrichtung. Diese Linie fuhr die Barer Straße hinauf nach Schwabing, und ich fuhr mit bis zum Kaiserplatz und St. Ursula. Soweit ich wusste, gab es dort noch weitere Altarfiguren von Ignaz Günther, doch als ich eine Siebenunddreißig die Hohenzollernstraße entlangkommen sah, sprang ich auf diese auf.
    Ich sagte mir, dass es keinen Sinn hatte, jeweils bis zur Endstation zu fahren. Meine Chancen, Wolfgang Stumpff zu treffen, erhöhten sich, wenn ich mit diesen Linien durchs Stadtzentrum fuhr, wo viel mehr Leute ein- und ausstiegen. Manchmal muss man als Detektiv Statistiker spielen und Wahrscheinlichkeiten berechnen. Ich fuhr kreuz und quer, suchte mir Sitzplätze, von denen aus er für die Tochter des Barons am leichtesten zu entdecken gewesen war.
    All diese kleinen Routinedinge erinnerten mich an den Polizeidienst. Wunde Füße, Schweiß im Kreuz und unterm Innenband meines Huts und das ständige Training meines heimlichen Beobachterblicks. Ich sah mir wieder Gesichter an. Suchte ein scheinbares Durchschnittsgesicht auf dem Sitz gegenüber nach besonderen Merkmalen ab. Die meisten Menschen haben ein besonderes Merkmal,

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