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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Chef-Ober nicht herschaute, irgendetwas Essbares aus ihrer Handtasche holte: einen Keks, einen Apfel, ein Stück Schokolade, noch einen Keks, ein kleines Butterbrot. Sie förderte Nahrungsmittel aus ihrer Handtasche zutage wie andere Frauen Puderdose, Lippenstift und Lidschatten. Ihre Haut war weiß und lag so lose auf dem darunterliegenden Fleisch, dass die gute Frau aussah wie frisch gerupft. Riesige Bernsteinklunker baumelten von ihren Ohren wie Toffees. Im Notfall hätte sie die wahrscheinlich auch gegessen. Ihr beim Verzehr eines Sandwichs zuzusehen, war, wie eine Hyäne beim Verschlingen einer Warzenschweinkeule zu beobachten. Ihr Schlund war ein Strudel, der alles hinabsog.
    «Ich warte auf jemanden», erklärte sie.
    «So ein Zufall», sagte ich.
    «Mein Sohn arbeitet bei den Amis», sagte sie unerschüttert. «Er führt mich zum Essen aus. Aber ich gehe nicht gern da rein, bevor er hier ist. Es ist so teuer.»
    Ich nickte, nicht, um ihr zuzustimmen, sondern einfach nur, um zu zeigen, dass ich lebendig war. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mich eine Weile nicht bewegte, würde sie mich ebenfalls fressen.
    «So teuer», wiederholte sie. «Ich esse lieber jetzt, damit ich drinnen nicht so viel esse. Es ist so eine Geldverschwendung, finde ich. Nur für ein Essen.» Sie machte sich an ein weiteres Sandwich. «Mein Sohn ist Direktor von American Overseas Airlines am Karlsplatz.»
    «Kenne ich», sagte ich.
    «Was machen Sie?»
    «Ich bin Privatdetektiv.»
    Ihre Augen leuchteten auf, und einen Moment lang dachte ich schon, sie würde mich engagieren, um eine verschwundene Pastete zu suchen. Zum Glück wählte Britta Warzok just diesen Moment, um durch den Eingang von der Marstallstraße zu treten.
    Sie trug einen langen Rock, eine weiße, taillierte Schneiderjacke, lange, schwarze Handschuhe, hochhackige weiße Lacklederschuhe und einen weißen Hut, der aussah wie von einem gutgekleideten chinesischen Kuli geborgt. Er ließ die Narben auf ihrer Wange sehr effizient im Schatten verschwinden. Um den Hals hatte sie fünf Reihen weißer Perlen, und über ihrem Arm hing eine Bambushenkel-Handtasche, die sie, noch während sie mich begrüßte, öffnete, um ihr einen Fünf-Mark-Schein zu entnehmen. Der Schein ging an den Chef-Ober, der sie mit einer Unterwürfigkeit empfing, die einem Höfling der Kurfürstin von Hannover gut angestanden hätte. Während er sich immer noch tiefer verbeugte, nutzte ich die Gelegenheit, um in ihre Handtasche zu spähen. Immerhin erkannte ich ein Fläschchen Miss Dior, ein Scheckbuch der Hamburger Kreditbank und eine .25er-Automatik, die aussah wie die kleine Schwester von meiner. Ich war mir nicht sicher, was mich mehr beunruhigte – die Tatsache, dass sie ihre Bankgeschäfte in Hamburg abwickelte, oder die vernickelte kleine Bleipuste, die sie bei sich trug.
    In einer Schleppe aus Parfüm, ehrerbietigem Nicken und bewundernden Blicken folgte ich ihr ins Restaurant. Ich konnte es keinem verdenken, sie anzustarren. Außer dem Miss Dior verströmte sie die Selbstsicherheit und majestätische Gelassenheit einer Prinzessin auf dem Weg zur Krönung. Ich nahm an, dass es ihre Größe war, die sie automatisch zum Zentrum der Aufmerksamkeit machte. Es hätte allerdings auch ihr untadeliger Sinn für Kleidung sein können. Und selbstverständlich ihre natürliche Schönheit. Aber ganz gewiss hatte es nichts mit dem Kerl zu tun, der hinter ihr herging und die Krempe seines Huts hielt, als wäre sie ihr Schleier.
    Wir setzten uns. Der Chef-Ober, der sie zu kennen schien, reichte uns Speisekarten in der Größe von Küchentüren. Sie sagte, sie habe gar nicht so großen Hunger. Ich hatte welchen, sagte aber um ihretwillen, ich hätte auch keinen. Es ist schwer, einer Kundin zu eröffnen, dass ihr Mann tot ist, wenn man dabei den Mund voll Bratwurst und Sauerkraut hat. Wir bestellten etwas zu trinken.
    «Kommen Sie oft hierher?», fragte ich sie.
    «Ich war ziemlich oft hier, vor dem Krieg.»
    «Vor dem Krieg?» Ich lächelte. «Dafür wirken Sie gar nicht alt genug.»
    «Oh, das bin ich aber», sagte sie. «Schmeicheln Sie allen Ihren Kundinnen, Herr Gunther?»
    «Nur den hässlichen. Die haben es nötig. Sie nicht. Deshalb war es auch keine Schmeichelei. Ich habe nur eine Tatsache konstatiert. Sie wirken nicht älter als dreißig.»
    «Ich war gerade achtzehn, als ich meinen Mann geheiratet habe, Herr Gunther. 1938. Da, jetzt habe ich Ihnen verraten, wie alt ich bin. Und ich hoffe, Sie schämen

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