Das Janusprojekt
wusste, Dr. Henkell hatte recht. Ein Chalet in Garmisch-Partenkirchen war sicher viel ruhiger und friedlicher als diese Baustelle hier. Genau das, was mir der Arzt verordnet hatte. Auch wenn es ein Arzt war, der allmählich verdächtig nach einem alten Kameraden klang.
«Ich bin möglicherweise noch nicht dazu gekommen, Ihnen etwas über die Kerle zu erzählen, denen ich in die Hände gefallen bin», sagte ich. «Die hatten auch verborgene Qualitäten. Sie wissen schon, so was wie Ehre und Treue. Und sie haben früher mal schwarze Mützen mit komischen Abzeichen getragen, weil sie wie Piraten aussehen wollten, um kleine Kinder zu erschrecken.»
«Sie haben mir erzählt, es seien Polizisten gewesen», sagte er. «Die Leute, die Sie zusammengeschlagen haben.»
«Polizisten, Detektive, Anwälte, Ärzte», sagte ich. «Es gibt offenbar nichts, was alte Kameraden nicht werden können.»
Dr. Henkell widersprach mir nicht.
Ich schloss die Augen. Ich war müde. Reden machte mich müde. Alles schien mich müde zu machen. Sehen und Atmen gleichzeitig machte mich müde. Schlafen machte mich müde. Aber nichts machte mich so müde wie alte Kameraden.
«Was waren Sie?», fragte ich. «Inspektor der Konzentrationslager? Oder auch einer von denen, die nur Befehle befolgt haben?»
«Ich war in der Zehnten SS-Panzerdivision Frundsberg», sagte er.
«Wie zum Teufel landet ein Arzt in einem Panzer?», fragte ich.
«Wollen Sie’s wirklich wissen? Ich dachte, in einem Panzer wäre es am sichersten. Und die meiste Zeit war es das auch. Wir waren in der Ukraine, von ’43 bis Juni ’44, dann wurden wir nach Frankreich verlegt. Danach waren wir in Arnheim und Nimwegen. Dann in Berlin. Dann in Spremberg. Ich hatte Glück. Ich konnte mich den Amis ergeben, in Tangermünde.» Er zuckte die Achseln. «Ich bereue es nicht, dass ich bei der SS war. Die Männer, die mit mir überlebt haben, werden mein Leben lang Freunde sein. Für sie würde ich alles tun. Alles.»
Henkell fragte mich nicht nach meiner SS-Zeit. Er wusste, dass das etwas war, worüber man entweder redete oder nicht reden wollte. Ich wollte nie wieder darüber reden. Ich sah ihm an, dass er neugierig war. Aber das machte mich nur noch entschlossener, darüber zu schweigen. Sollte er doch denken, was er wollte. Es war mir egal.
«Tatsächlich», sagte er, «würden Sie mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie ins Haus Mönch gingen. So heißt mein Haus am Sonnenbichl. Im Moment wohnt dort ein Freund von mir. Sie könnten ihm Gesellschaft leisten. Er sitzt seit dem Krieg im Rollstuhl und ist oft deprimiert. Sie könnten ihn ein bisschen aufmuntern. Das wäre gut für Sie beide. Es gibt dort eine Krankenschwester und eine Zugehfrau. Sie hätten es sehr komfortabel.»
«Dieser Freund von Ihnen –»
«Erich.»
«Er ist nicht zufällig auch ein alter Kamerad, oder?»
«Er war bei der Neunten SS-Panzerdivision», sagte Henkell. «Hohenstaufen. Er war auch in Arnheim. Im September ’44 wurde sein Panzer von den Tommys getroffen, mit einer Siebzehnpfünder-Pak.» Henkell hielt einen Moment inne. «Aber er ist kein Nazi, falls es das ist, was Sie wissen wollten. Wir waren beide nie in der Partei.»
Ich lächelte. «Ob Sie’s glauben oder nicht», sagte ich, «ich auch nicht. Aber ich will Ihnen einen guten Rat geben. Verraten Sie den Leuten nicht, dass Sie nie in der Partei waren. Die denken sonst noch, Sie hätten was zu verbergen. Mir ist wirklich schleierhaft, wo die ganzen Nazis geblieben sind. Die müssen alle die Russen haben.»
«So habe ich mir das noch gar nie überlegt», sagte er.
«Ich werde einfach so tun, als hätte ich nichts gehört, dann bin ich nicht so enttäuscht, wenn er sich als Himmlers clevererer Bruder Gebhard entpuppt.»
«Sie werden ihn mögen», sagte Henkell.
«Klar. Wir werden am Feuer sitzen und uns vor dem Schlafengehen gegenseitig das Horst-Wessel-Lied vorsingen. Ich werde ihm ein paar Kapitel aus Mein Kampf vorlesen, und er wird mich mit den Aufsätzen aus der Kampfzeit von Dr. Goebbels erfreuen. Wie klingt das?»
«Als hätte ich mich geirrt», sagte Henkell resigniert. «Vergessen Sie, dass ich es je angesprochen habe, Gunther. Ich habe es mir anders überlegt. Ich glaube, Sie würden ihm doch nicht guttun. Sie sind ja noch verbitterter als er.»
«Jetzt nehmen Sie mal den Fuß vom Panzerpedal, Doktor», sagte ich. «Ich werde hinfahren. Alles ist besser als dieser Laden hier. Wenn ich hier noch länger bleibe, brauche
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