Das Janusprojekt
Schwester auf, die mir beim Ausziehen half. Sie war ein nett aussehendes Mädchen, und selbst in einem Krankenhaus musste es für sie erfreulichere Anblicke geben als meinen Körper. Ich hatte so viele blaue Striemen, dass ich aussah wie die bayerische Fahne.
«Herrjesses», rief der Arzt aus, als er wiederkam, um mich zu untersuchen. Tatsächlich konnte ich mir jetzt besser vorstellen, wie sich ebenjener gefühlt haben musste, als die Römer mit ihm fertig waren. «Was ist denn mit Ihnen passiert?»
«Ich sagte doch schon: Ich bin zusammengeschlagen worden.»
«Aber von wem denn? Und warum?»
«Sie sagten, sie seien von der Polizei», antwortete ich. «Aber vielleicht wollten sie ja einfach nur, dass ich gut von ihnen denke. Ich denke immer von allen das Schlechteste. Ist ein Charakterfehler von mir. Genau wie ich mich nie auf meine eigenen Angelegenheiten beschränken und meinen vorlauten Mund nicht halten kann. Wenn ich mal zwischen den Striemen lese, würde ich sagen, dass ihnen genau das nicht gefiel.»
«Humor haben Sie ja», bemerkte der Arzt. «Ich habe das Gefühl, dass Sie den morgen früh brauchen werden. Diese Hämatome sind nicht von Pappe.»
«Ich weiß.»
«Jetzt werden wir Sie erst mal röntgen. Schauen, ob irgendwas gebrochen ist. Dann werden wir Sie mit Schmerzmitteln vollpumpen und uns mal Ihren Finger ansehen.»
«Wo Sie gerade davon sprechen, er ist in meiner Jackentasche.»
«Ich meinte wohl eher den Stumpf.» Ich ließ ihn das Taschentuch abwickeln und die Überreste meines kleinen Fingers untersuchen. «Das erfordert ein paar Stiche», erklärte er. «Und ein Antiseptikum. Trotzdem, dieser Finger ist wirklich sehr sauber abgetrennt. Die beiden oberen Glieder fehlen. Wie haben diese Leute das gemacht? Ich meine, wie haben sie ihn amputiert?»
«Mit Hammer und Meißel», sagte ich.
Arzt und Schwester zuckten mitfühlend zusammen. Aber ich zitterte jetzt vor Kälte. Die Schwester legte mir eine Decke um die Schultern. Ich zitterte weiter. Und gleichzeitig brach mir der Schweiß aus. Und ich hatte großen Durst. Als ich anfing zu gähnen, kniff mich der Doktor ins Ohrläppchen.
«Sagen Sie nichts», sagte ich durch die klappernden Zähne. «Sie finden mich niedlich.»
«Sie haben einen Schock», sagte er. Er hob meine Beine auf die Liege und half mir, mich hinzulegen. Sie häuften weitere Decken auf mich. «Sie haben Glück, dass Sie hier sind.»
«Heute Abend halten mich alle für einen Glückspilz», sagte ich. Ich fühlte mich jetzt ein wenig schwach. Und unruhig. Regelrecht panisch. «Sagen Sie, Herr Doktor, kann man wirklich im Sommer die Grippe kriegen und sterben?» Ich holte tief Luft und pustete sie heraus, fast als wäre ich gerannt. Plötzlich jieperte ich nach einer Zigarette.
«Grippe?», sagte er. «Wovon reden Sie? Sie haben keine Grippe.»
«Komisch. Ich fühle mich aber so.»
«Und Sie werden auch nicht sterben.»
«1918 sind vierundvierzig Millionen an der Grippe gestorben», sagte ich. «Wie können Sie sich da so sicher sein? Es sterben dauernd Leute an Grippe, Herr Doktor. Meine Frau zum Beispiel. Und meine zweite Frau. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwas daran hat mir gar nicht gefallen. Ich meine nicht an meiner Frau. Obwohl sie mir auch nicht gefallen hat. In letzter Zeit nicht mehr. Am Anfang schon. Da hat sie mir sehr gefallen. Aber seit Kriegsende nicht mehr. Und schon gar nicht, seit wir nach München gekommen sind. Wahrscheinlich hatte ich die Prügel heute Abend verdient. Verstehen Sie? Ich hatte sie verdient, Herr Doktor. Was auch immer sie mit mir gemacht haben, ich hab’s selbst herausgefordert.»
«Unsinn.» Der Arzt sagte noch etwas anderes. Ich glaube, er stellte mir eine Frage. Ich verstand sie nicht. Ich verstand gar nichts. Der Nebel war wieder da. Er quoll auf mich zu wie der Dampf aus einer Waschküche an einem kalten Wintertag. Berliner Luft. Unverkennbar. Wie nach Hause zu kommen. Aber ein winziger Teil von mir wusste, dass nichts davon real war und dass ich einfach nur zum zweiten Mal an diesem Abend ohnmächtig wurde. Was ein bisschen so ist, wie tot zu sein. Nur besser. Alles ist besser, als tot zu sein. Vielleicht hatte ich ja doch mehr Glück gehabt, als ich gedacht hatte. Solange ich das eine noch vom anderen unterscheiden konnte, war alles mehr oder minder in Ordnung.
18
Es war Tag. Sonnenlicht fiel durchs Fenster herein. Staub tanzte in den hellen Lichtkegeln wie winzige Figuren aus einem himmlischen Filmprojektor.
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