Das Janusprojekt
bei dem drei Millionen deutsche Soldaten, darunter auch ich, und über dreitausend Panzer in die Sowjetunion vorgedrungen waren. Ich erinnerte mich höllisch klar an Minsk. Ich erinnerte mich an Lutsk. Ich erinnerte mich an alles, was dort passiert war. Obwohl ich mir alle Mühe gab, würde ich es anscheinend nie vergessen können.
Das Tempo unseres Vormarsches überraschte alle – uns genauso wie den Iwan. So nannten wir die Russkis damals. Am 21. Juni ’41 hatten wir uns an der sowjetischen Grenze gesammelt, voller Angst vor dem, was kommen würde. Fünf Tage später hatten wir über dreihundert Kilometer zurückgelegt und waren in Minsk. Massives Artilleriefeuer und Stukaangriffe hatten die Rote Armee zermürbt, und viele von uns hielten den Krieg schon für so gut wie vorbei. Doch die Russen kämpften weiter, wo andere – die Franzosen zum Beispiel – längst aufgegeben hätten. Ihre Standhaftigkeit resultierte zumindest zum Teil daraus, dass NKWD-Sperrverbände einer allgemeinen Panik durch die Androhung standrechtlicher Erschießungen gewehrt hatten. Die Russen wussten zweifellos, dass das keine leere Drohung war. Sie mussten mitbekommen haben, was tausenden ukrainischen und polnischen Gefangenen in Minsk, Lwow, Zolochiw, Riwne und Lutsk widerfahren war. So schnell war die Wehrmacht in der Ukraine vorgerückt, dass die zurückweichenden Sowjets nicht mehr die Zeit hatten, die Gefangenen aus den NKWD-Gefängnissen zu evakuieren. Und uns wollten sie sie nicht in die Hände fallen lassen, weil sie dann womöglich SS-Helfer oder pro-deutsche Partisanen geworden wären. Also hatte der NKWD, ehe diese Städte ihrem Schicksal überlassen wurden, die Gefängnisse in Brand gesteckt – mit allen darin eingesperrten Gefangenen. Nein, das stimmt nicht. Die Deutschen hatten sie mitgenommen, wohl um sie später gegen Russen auszutauschen. Aber dazu kam es nicht. Wir fanden sie später in einem Kleefeld an der Straße nach Smolensk. Sie hatten sich ausziehen müssen und waren mit Maschinengewehren niedergemäht worden.
Ich war bei einem Reserve-Polizei-Bataillon, das der 49. Armee angegliedert war. Unsere Aufgabe war es, NKWD-Todesschwadronen aufzuspüren und ihrem Treiben ein Ende zu machen. Wir hatten nachrichtendienstliche Erkenntnisse, dass eine Todesschwadron aus Lwow und Dubno nach Lutsk unterwegs war, und wir versuchten, in unseren leichten Panzerwagen und Puma-Panzerspähwagen vor ihnen da zu sein. Lutsk war eine kleine Stadt am Styr mit siebzehntausend Einwohnern. Es war Sitz eines katholischen Bischofs, was die Kommunisten nicht gerade für diesen Ort einnehmen würde. Als wir in Lutsk ankamen, fanden wir fast die gesamte Einwohnerschaft um das NKWD-Gefängnis geschart, in verzweifelter Angst um dort eingesperrte Verwandte. Ein Trakt des Gefängnisses brannte bereits lichterloh, aber mit unseren gepanzerten Fahrzeugen konnten wir eine Mauer einreißen und über tausend Männern und Frauen das Leben retten. Doch für fast dreitausend andere kamen wir zu spät. Viele waren durch Genickschuss hingerichtet, andere von Granaten getötet worden, die durch Zellenfenster hineingeflogen waren. Aber die meisten waren ganz einfach verbrannt. Den Geruch von verkohltem Menschenfleisch werde ich mein Lebtag nicht vergessen.
Die Einwohner sagten uns, wohin die Todesschwadron abgerückt war, also machten wir uns auf die Jagd. Das war mit den Panzerfahrzeugen nicht weiter schwer. Die unbefestigten Straßen waren hart wie Beton. Schon ein paar Kilometer weiter nördlich, bei einem Ort namens Goloby, holten wir sie ein. Es kam zu einem Feuergefecht. Dank der Kanonen auf unseren Panzerwagen entschieden wir es mühelos für uns. Dreißig NKWD-Leute nahmen wir gefangen. Sie hatten nicht mal mehr Zeit gehabt, ihre roten Ausweise wegzuwerfen, die zu ihrem Pech mit Fotos versehen waren. Einer von ihnen hatte sogar noch die Schlüssel des Gefängnisses von Lutsk in der Tasche und obendrein eine Reihe Dokumente über dort ermordete Gefangene. Es waren achtundzwanzig Männer und zwei Frauen. Die eine, die Jüngste von allen, war neunzehn und auf diese slawische Art hübsch. Es fiel schwer, sie mit der Ermordung so vieler Menschen in Verbindung zu bringen. Einer der Gefangenen sprach Deutsch, und ich fragte ihn, warum sie so viele ihrer eigenen Leute umgebracht hätten. Er erklärte, es sei ein direkter Befehl von Stalin gewesen, und ihre Politkommissare hätten sie erschießen lassen, wenn sie ihn nicht ausgeführt hätten.
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