Das Janusprojekt
Rotarmisten und der hiesigen Bevölkerung ganz zu schweigen. Da liegt eine schwierige Aufgabe vor uns, das kann ich Ihnen versichern. Nicht jeder ist dafür geeignet. Ich reiße mich auch nicht gerade darum, Bernie. Habe ich mich klar ausgedrückt?»
«Ziemlich», sagte ich. «Aber ich würde lieber auf Leute schießen, die zurückschießen. Da bin ich nun mal eigen.»
«Für den Fronteinsatz sind Sie zu alt», sagte er. «Da machen Sie’s keine fünf Minuten.»
«Ich nehme das Risiko auf mich, Herr Brigadeführer.»
Er sah mich noch einen Moment an und rieb sich dann die lange Spürnase. Er hatte ein Polizistengesicht. Schlau, zäh, verschmitzt. Bisher hatte ich ihn nie für einen Nazi gehalten. Ich wusste aus sicherer Quelle, dass er noch vor drei Jahren an einer Verschwörung von Offizieren beteiligt gewesen war, die Hitler absetzen wollten, sobald die Briten auf die Annexion des Sudetenlands hin Deutschland den Krieg erklären würden. Aber die Briten taten es nicht. Nicht ’38. Aber Nebe hatte einen ausgeprägten Überlebensinstinkt. Und außerdem waren 1940, nachdem Hitler die Franzosen in nur sechs Wochen besiegt hatte, viele Hitler-Gegner innerhalb der Wehrmacht umgeschwenkt. Dieser Sieg war vielen Deutschen wie ein Wunder erschienen, selbst jenen, die Hitler und alles, wofür er stand, ablehnten. Ich vermutete, dass Nebe auch zu diesen Leuten gehörte.
Er hätte mich erschießen lassen können, obwohl ich nie von jemandem gehört habe, der erschossen worden wäre, weil er sich dem sogenannten Kommissarbefehl widersetzte, der ohnehin kaum mehr war als eine Lizenz zum Ermorden russischer Zivilisten. Er hätte mich in ein Strafbataillon schicken können. Die gab es. Aber Nebe schickte mich zu Gehlens Abteilung Fremde Heere Ost, wo ich mehrere Wochen damit verbrachte, erbeutete NKWD-Unterlagen zu sichten. Und anschließend wurde ich nach Berlin versetzt, zur Untersuchungsstelle des OKW für Verletzungen des Völkerrechts. Ich nahm an, dass das Nebes Vorstellung von einem Scherz war. Er hatte immer schon einen merkwürdigen Humor gehabt .
Ich dachte an all meine Ausreden für die Ereignisse in Lutsk. Dass ich nicht hatte wissen können, dass es Juden waren. Dass sie Mörder gewesen waren. Dass sie fast dreitausend Menschen getötet hatten – wahrscheinlich noch mehr. Dass sie mit Sicherheit noch mehr politische Gefangene getötet hätten, wenn wir sie nicht erschossen hätten.
Aber am Ende lief es doch immer auf das Gleiche hinaus.
Ich hatte dreißig Juden exekutiert. Sie hatten all diese Gefangenen nur getötet, um zu verhindern, dass sie mit den Naziinvasoren kollaborierten – was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getan hätten. Stalin rekrutierte Juden in großer Zahl für den NKWD, weil er wusste, sie kämpften für mehr. Ich war am größten Verbrechen der Geschichte beteiligt gewesen.
Ich hasste mich dafür. Aber die SS hasste ich noch mehr. Ich hasste sie dafür, wie ich zum Mittäter bei ihrem Genozid geworden war. Ich wusste genau, was im Namen Deutschlands geschehen war. Und das war der wahre Grund, weshalb ich diese Kirche mit Mordabsichten betrat. Es ging nicht nur darum, dass ich übel zusammengeschlagen worden war und meinen Finger verloren hatte. Es ging um etwas viel Wichtigeres. Die Gewaltorgie hatte mir nur noch schmerzlicher bewusstgemacht, wer diese Leute waren und was sie getan hatten, was sie nicht nur Millionen Juden angetan hatten, sondern auch Millionen Deutschen. Was sie mir angetan hatten. Das war ein Grund zum Töten.
21
Ich saß im spätgotischen Seitengang der Heilig-Geist-Kirche, ganz in der Nähe des Beichtstuhls, und wartete, dass er frei wurde. Ich war mir mehr oder weniger sicher, dass Gotovina dort drinnen war, denn ich hatte die beiden anderen Priester, die beim letzten Mal hier gewesen waren, im Blick. Der eine, von der verständnisvollen Sorte mit seinem Lasset-die-Kindlein-zu-mir-kommen-Lächeln, unterhielt sich gerade am Portal leise mit einer stämmigen, für den Marktgang gerüsteten Hausfrau. Der andere, ein etwas gezierter Typ mit dunklem Haar, einem Zuhälterbärtchen und einem Spazierstock mit silbernem Knauf, hinkte zum Hochaltar wie ein dreibeiniges Insekt.
In der ganzen Kirche roch es intensiv nach Weihrauch, frischem Holz und Mörtel. Ein Mann mit einer Augenklappe stimmte einen Flügel auf eine Art, die suggerierte, dass es wohl nur Zeitverschwendung war. Sechs oder sieben Reihen vor mir kniete eine betende Frau. Durch die
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