Das Janusprojekt
waren keine SS-Leute. Die durften das nicht. Einige riskierten es trotzdem. Aber die meisten begnügten sich damit, durch die Gucklöcher in den Türen zu linsen, während wir es machten. Ich hatte sogar einen Freund, einen Mann von der Lagerfeuerwehr. Ein Tscheche, der sehr nett zu mir war. Einmal, an einem heißen Tag, schmuggelte er mich sogar ins Schwimmbad der Lagerfeuerwehr. Ich hatte keinen Badeanzug an. Ich weiß noch, wie schön sich damals die Sonne auf meinem nackten Körper anfühlte. Und wie nett die Männer alle waren. Wie sie mich behandelten, als wäre ich regelrecht anbetungswürdig. Ich fand, es war der schönste Tag meines Lebens. Er war Katholik, und wir ließen uns in so einer Art heimlichen Zeremonie von einem Priester trauen. Alles ging gut, bis es im Oktober ’44 einen Lageraufstand gab. Mein Freund war daran beteiligt und wurde gehängt. Dann, als die Rote Armee nur noch wenige Kilometer entfernt war, mussten wir das Lager verlassen und losmarschieren. Dieser Marsch war das Schlimmste. Schlimmer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Leute fielen im Schnee hin und wurden einfach an Ort und Stelle erschossen. Irgendwann wurden wir dann in Züge gepfercht und nach Bergen-Belsen gebracht, wo es noch viel schlimmer war als in Auschwitz und schrecklicher, als ich es beschreiben kann. Es gab nichts zu essen. Gar nichts. Ich habe zwei Monate gehungert. Wenn ich in Block Vierundzwanzig nicht so gut ernährt worden wäre, hätte ich Belsen mit Sicherheit nicht überlebt. Als die Briten das Lager im April ’45 befreiten, wog ich noch fünfundsiebzig Pfund. Aber ich war am Leben. Das war die Hauptsache. Dagegen ist doch alles andere unwichtig, oder?»
«Absolut», sagte ich.
Sie zuckte die Achseln. «Es ist nun mal passiert. Ich hatte in Auschwitz vierhundertsechzehn Mal Geschlechtsverkehr. Ich habe mitgezählt, damit ich immer genau wusste, was mich das Überleben kostete. Ich bin stolz darauf, dass ich überlebt habe. Und ich erzähle Ihnen das alles, weil ich stolz darauf bin und weil die Leute wissen sollen, was Juden, Kommunisten, Zigeunern und Homosexuellen im Namen des Nationalsozialismus angetan wurde. Und ich erzähle es Ihnen auch, weil ich Sie mag, Bernie, und weil es, falls Sie je mit mir ins Bett gehen wollen, am besten ist, Sie wissen alles. Nach dem Krieg habe ich einen Ami geheiratet. Er hat Reißaus genommen, als er erfahren hat, was für eine Art Frau ich war. Erich denkt, dass mir das zu schaffen macht, aber das stimmt nicht. Es macht mir nicht zu schaffen. Und was hat es schon zu sagen, mit wie vielen Männern ich geschlafen habe? Ich habe niemanden getötet. Damit leben zu müssen, scheint mir viel schwerer. So wie Erich. Er hat als Vergeltung für den Tod von ein paar Männern in einem deutschen Sanitätswagen eine Reihe französischer Widerstandskämpfer erschossen. Also, das wollte ich nicht auf dem Gewissen haben. Mord mit sich herumzutragen, muss doch viel schlimmer sein als die Erinnerungen, mit denen ich leben muss. Meinen Sie nicht?»
«Doch», sagte ich. «Das glaube ich auch.»
Ich berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen. Sie hatte keine Narben auf den Wangen, aber ich konnte nicht umhin, an die Narben in ihrem Inneren zu denken. Über vierhundert Stück vermutlich. Gegen das, was sie durchgemacht hatte, schien das, was ich erlebt hatte, banal, obwohl ich wusste, dass es das nicht war. Ich war schon im Ersten Weltkrieg gewesen, deshalb war ich vermutlich besser auf all die Schrecklichkeiten vorbereitet gewesen als sie. Manche Männer mochte ihre Geschichte abstoßen – so wie ihren Ami. Mich nicht. Vielleicht wäre es ja besser für mich gewesen, es hätte mich abgestoßen. Aber ich sah darin nur eine Gemeinsamkeit.
Engelbertina schmierte noch etwas Salbe auf meinen Fingerstumpf und verband ihn dann mit Mull und Hansaplast. Sie sagte: «Jedenfalls, jetzt wo Sie das alles wissen, werden Sie auch verstehen, warum ich mich manchmal wie eine Hure benehme. Und dass das nichts ist, wogegen ich etwas tun könnte. Wenn ich einen Mann mag, gehe ich mit ihm ins Bett. So einfach ist das. Und Sie mag ich, Bernie. Sie mag ich sehr.»
Man hatte mir schon unverblümtere Anträge gemacht, aber nur in meinen Träumen. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich vielleicht härter über sie geurteilt, wenn sie ausgesehen hätte wie Lotte Lenya oder Fanny Blankers-Koen. Aber da sie aussah wie die drei Grazien, verdichtet zu einer hellenistischen Erotik-Show, war ich nur zu gern bereit,
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