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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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dachte, ich könnte Sie vielleicht bitten, die hier für mich in Verwahrung zu nehmen», sagte sie.
    «Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten jemanden erschossen.»
    «Nein, aber ich habe Angst, Erich könnte sich damit umbringen. Es ist nämlich seine Pistole. Und, na ja, manchmal ist er ziemlich depressiv. Ich dachte, es wäre vielleicht besser, sie ist in sicheren Händen.»
    «Er ist ein großer Junge», sagte ich. Ich nahm die Pistole entgegen und prüfte, ob sie gesichert war. Sie war es nicht. Ich sicherte sie. «Er sollte doch in der Lage sein, selbst auf seine Pistole aufzupassen. Außerdem scheint er mir nicht der suizidale Typ.»
    «Das ist alles nur Theater», sagte sie. «Seine Munterkeit. So ist er in Wirklichkeit gar nicht. Innerlich ist er ziemlich am Boden. Hören Sie, ich wollte die Pistole zuerst wegwerfen, aber dann fand ich das doch nicht so gut. Es könnte sie ja jemand finden, und wenn dann etwas passiert? Und dann dachte ich, wo Sie doch Detektiv sind, wüssten Sie vielleicht, was man mit so einem Ding macht.» Sie fasste beschwörend meine Hand. «Bitte. Wenn er Sie erst danach fragen muss, kann er nichts tun, ohne dass es jemand mitbekommt.»
    «Gut», sagte ich. Als sie weg war, versteckte ich die Pistole hinter dem Badezimmerboiler.
    Wie üblich war in der Küche irgendetwas Köstliches in Arbeit. Ich fragte mich, was es wohl zu essen geben würde. Und ich fragte mich auch, ob das, was Grün über Engelbertina gesagt hatte, wirklich stimmen konnte. Ich musste nicht lange warten, bis meine Zweifel in diesem Punkt ausgeräumt wurden.

24
    Von Zeit zu Zeit pflegte Engelbertina meine Temperatur zu messen, mir Penicillin zu verabreichen und den vernarbten Stumpf meines kleinen Fingers mit jener liebevollen Besorgnis zu inspizieren, die ein Kind einem kranken Kaninchen angedeihen lassen würde. Als sie dazu überging, den Stumpf zu küssen, war mir klar, dass ihre krankenschwesterliche Fürsorge etwas weniger schwesterlich war als üblich. Ich hatte sie nie nach ihrer Lebensgeschichte gefragt. Ich sagte mir, wenn sie je darüber sprechen wollen würde, dann würde sie es von sich aus tun. Und eines Tages, während sie meinen Finger wieder auf die bereits beschriebene Art und Weise untersuchte, war es so weit.
    «Ich bin Österreicherin», sagte sie. «Habe ich Ihnen das schon erzählt? Nein, wahrscheinlich nicht. Manchmal sage ich, ich bin aus Kanada. Kanada hat mir das Leben gerettet. Nicht das Land, das meine ich nicht. Kanada nannten sie die Sortierstelle in Auschwitz, wo wir Mädchen – wir waren dort etwa fünfhundert – die Habseligkeiten aller neu eintreffenden Häftlinge auf Wertsachen durchsuchen mussten, bevor die Leute vergast wurden.» Sie sprach so emotionslos, als beschriebe sie irgendeine Art von Fabrikarbeit. «In Kanada bekamen wir besseres Essen und Kleidung, genügend Schlaf. Wir durften uns sogar die Haare wieder wachsen lassen. Ich kam ’42 nach Auschwitz. Zuerst musste ich aufs Feld. Das war sehr schwere Arbeit. Wenn ich da hätte bleiben müssen, wäre ich, glaube ich, gestorben. Und die Arbeit hat meine Hände kaputtgemacht. Nach Kanada kam ich dann ’43. Das war natürlich auch nicht gerade ein Ferienlager. Es passierten immer noch Sachen. Schlimme Sachen. Ich wurde, während ich dort war, dreimal von SS-Leuten vergewaltigt.» Sie zuckte die Achseln. «Das erste Mal war es am schlimmsten. Hinterher hat er mich geschlagen. Aus schlechtem Gewissen, vermute ich. Aber er hätte mich ebenso gut töten können. Manchmal taten sie das, aus Angst, das Mädchen würde es verraten. Das zweite und dritte Mal habe ich mich nicht gewehrt. Ich wollte es nicht. Aber ich wollte auch nicht verletzt werden. Das dritte Mal habe ich sogar versucht, Vergnügen daran zu haben, was ein Fehler war. Denn als sie später im selben Jahr das Lagerbordell aufgemacht haben, hat sich jemand daran erinnert, und ich kam dorthin, als Prostituierte. Wobei es niemand Bordell genannt hat. Und wir haben uns damals sicher nicht als Prostituierte gesehen. Wir machten nur unsere Arbeit, und die bestand darin, am Leben zu bleiben. Es hieß einfach nur Block Vierundzwanzig, und wir wurden vergleichsweise gut behandelt. Wir hatten saubere Kleidung, Duschen, Gymnastik und medizinische Betreuung. Wir hatten sogar Parfüm. Ich kann gar nicht beschreiben, wie das war, wieder gut zu riechen, nachdem man ein ganzes Jahr lang nur nach Schweiß oder Schlimmerem gestunken hatte. Die Männer, mit denen wir Verkehr hatten,

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