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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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von willkürlichen Städtebaumaßnahmen, als hätte stets ein guter Geist über seine durchdachte Architektur gewacht. Die grauen oder weißen Häuser scheinen auf gleicher Höhe mit dem Berg verwachsen zu sein, zieren ihn wie Steinketten. Die zauberhaft einfarbig gehaltene Stadt hebt sich von der ockerfarbenen Erde der Provence ab wie ein gut aufgegangener Kuchen, wobei die Architektur des Städtchen mit der Form des Berges harmonisch verschmilzt. Zwischen Olivenbäumen, Stein- und Korkeichen, Zedern und Akazien thronen die Häuser über der Landschaft des Lubéron, als wollten sie über sie wachen.
    Ich hielt auf der anderen Seite des Tals an, stieg vom Motorrad und verweilte eine Ewigkeit, fasziniert von der einmaligen Schönheit des Panoramas. Die Maisonne begann langsam hinter den grünen Bergen zu verschwinden. Dann stieg ich wieder auf meine Harley, um mit den letzten Sonnenstrahlen das Zentrum des Dorfes zu erreichen.
    Mein Eintreffen auf dem kleinen Dorfplatz am Fuße des imposanten Schlosses blieb von den Einwohnern nicht unbemerkt. Zu dieser Jahreszeit gab es wenige Touristen und das Dröhnen meiner Harley rief amüsierte Blicke hervor. Ich steuerte auf die Terrasse eines der vielen Cafés am Kirchenvorplatz zu, nahm umständlich meinen Helm ab und bat einen Kellner, mir die Straße zu zeigen, in der sich das Haus meines Vaters befand. Er nickte, als hätte er den Grund meines Besuchs begriffen, und erklärte mir den Weg.
    Ich folgte den schattigen, gewundenen Gassen des alten Dorfes und gelangte zu dem Haus, das ich auf dem Polaroid-Foto des Notars gesehen hatte.
    In einer engen, stillen, steil ansteigenden Straße lag das Steinhaus mit den geschlossenen Läden hinter einem kleinen Vorgarten mit einem schwarzen Tor.
    Ich stellte mein Motorrad auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ab, der etwas breiter war. Dann klemmte ich meinen Helm hinter den Sattel und hoffte, dass es hier weniger Diebe gäbe als in Paris. Schließlich holte ich meinen Rucksack und meinen Laptop aus der Satteltasche und ging auf die efeuumrankte Gartentür zu, während ich in meiner Tasche nach dem Schlüsselbund kramte. Meine Schritte hallten in der engen Gasse wider. Ich brauchte eine Weile, bis ich den richtigen Schlüssel fand, und als das Schloss endlich nachgab, stieß ich das Gartentor auf und betrat gemächlich den kleinen Garten mit dem Kiesweg. Das Haus war von mehreren Eichen umgeben und vereinzelt konnte man sogar ein paar Blumenbeete erkennen.
    Ich hatte das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Das lag sicherlich an der plötzlichen Stille, die entstanden war, als ich den Motor abgestellt hatte. Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Fenster der umliegenden Häuser, konnte aber niemanden entdecken, und grinste, um das unangenehme Gefühl des Beobachtetwerdens zu verdrängen. Dann betrat ich das Haus und blieb einen Augenblick hinter der Türschwelle stehen, um mich nach allen Seiten umzusehen. Die Vorstellung, dass mein Vater seine Büchersammlung verkauft hatte, um dieses Haus zu kaufen, verblüffte mich noch immer. So malerisch das Dorf auch war, ich konnte mir meinen Vater innerhalb dieser Mauern nur schwer vorstellen. Und dennoch glaubte ich, einen Mantel, einen Tisch, vielleicht sogar einen Spiegel wieder zu erkennen. Mein Vater hatte wirklich hier gelebt, und wie es aussah, sogar allein. Vielleicht steckte nicht einmal eine Frau hinter all dem.
    Ohne mir die Zeit zu nehmen, meinen Anorak auszuziehen, stellte ich mein Gepäck am Eingang ab und besichtigte alle Zimmer. Im Erdgeschoss gab es ein riesiges Wohn- und Esszimmer, das Vestibül mit einer kleinen Tür unter der Treppe und eine Küche. Nichts erregte hier meine besondere Aufmerksamkeit. Die Räume waren funktional und unpersönlich. Weit und breit gab es weder Gemälde noch Fotos, nichts, was darauf hindeutete, dass mein Vater die Absicht hatte, hier heimisch zu werden. Ich ging die knarrende Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Hier gab es, eingezwängt unter dem Spitzdach, zwei Zimmer und ein Bad. Das eine war das Schlafzimmer meines Vaters, das andere war fast unmöbliert, und zweifellos seit sehr langer Zeit nicht benutzt worden. Aber auch hier entdeckte ich nichts Besonderes.
    Dass mein Vater alle Bücher verkauft hatte, konnte ich mir schon kaum vorstellen, aber noch unwahrscheinlicher war, dass er in den zwei Jahren kein neues dazugekauft haben sollte. Doch ich konnte suchen, so viel ich wollte: weit und breit war kein einziges Buch, kein

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