Das Jesusfragment
einziges Bild zu sehen.
Vom Garten aus hatte ich links und rechts der Eingangstür zwei Luken bemerkt, die auf ein Kellergeschoss hindeuteten. Das war meine letzte Chance, eine Antwort zu finden. Meine letzte Hoffnung. Rasch ging ich zu der kleinen Tür, die ich unter der Treppe entdeckt hatte.
*
Von allen Türen des Hauses war diese als Einzige abgeschlossen. Ich probierte alle Schlüssel, die mir der Notar gegeben hatte, aber keiner passte in das Schloss. Dann sah ich mich im Vestibül um, suchte neben dem Telefon und auf dem kleinen Tisch, aber nirgendwo lag ein Schlüssel.
Ich kehrte in das Wohnzimmer zurück, ging durch alle Räume, verlor die Geduld, schaute nacheinander in alle Schubladen, Schränke, Kartons – nichts, keine Spur von einem Schlüssel.
Schließlich setzte ich mich auf einen Sessel und betrachtete von dort aus die kleine Holztür.
Was verbarg sich dahinter? Weshalb hatte mein Vater seinen Keller abgeschlossen?
Da ich meine Neugier nicht mehr länger bezähmen konnte, sprang ich auf und versuchte, die Tür aufzubrechen. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Doch nach mehreren Versuchen gelang es mir schließlich, mit einem kräftigen Fußtritt, die Tür aus den Angeln zu heben. Sie fiel nach hinten und rutschte krachend die Stufen einer kleinen Holztreppe hinunter. Als das Geräusch verstummt war, setzte ich mich langsam in Bewegung und tastete nach einem Lichtschalter an der Wand.
Dann breitete sich endlich Licht in dem Keller aus und ich entdeckte einen ganz und gar ungewöhnlichen Anblick, den der Keller dieses kleinen Hauses im Vaucluse zu bieten hatte. Und ich begriff sofort, dass jenes seltsame Gefühl, das mich seit meinem Treffen mit dem Notar beschlichen hatte, mehr als begründet war.
Während das Haus fast leer und perfekt aufgeräumt war, herrschte in dem voll gestopften Keller ein unbeschreibliches Chaos. Es schien, als habe mein Vater ausschließlich in diesem Raum gelebt, als habe er dieses Haus lediglich wegen seines sonderbar gewölbten Kellers gekauft.
An drei von vier Wänden bogen sich die Regalbretter unter riesigen Bücherstapeln. Es waren sogar mehr Bücher, als die Pariser Sammlung umfasst hatte. Hunderte von Bänden, die ohne erkennbare Ordnung herumlagen. An der vierten Wand waren in buntem Durcheinander Zeitungsausschnitte, Fotos und Manuskriptnotizen mit Reißzwecken befestigt worden, was an die Pinnwand auf einem Polizeirevier erinnerte. In der Mitte der Wand, eingezwängt zwischen mehreren Papierschichten, glänzten zwei breite Bilderrahmen.
Ich stieg die ersten Stufen der schmalen Treppe hinunter und betrachtete die beiden Bilder. Eines war eine sehr präzise Reproduktion der Mona Lisa und das andere ein alter Kupferstich mit sorgfältigen Detailzeichnungen.
Ich runzelte die Stirn und ging die Treppe weiter hinunter.
In der Mitte dieses düsteren und feuchten Raumes standen zwei primitive Tische, die mit hohen Stapeln alter und neuer Bücher überladen waren, manche waren noch aufgeblättert, andere drohten die ganze Konstruktion aus Holzböcken und Brettern zum Einsturz zu bringen. Auf dem Boden lagen ebenfalls bergeweise Bücher und Papier inmitten einer großen Menge von leeren Flaschen, umgekippten Gläsern oder Tassen, zerknülltem Papier, überfüllten Kartons, Verpackungen, überquellenden Mülleimern.
Vorsichtig ging ich in die Mitte des Gewölbes und versuchte, auf dem Weg nichts umzuwerfen. Dann las ich die Titel der Bücher, die sich auf den beiden Brettern türmten. Da waren zunächst etliche Geschichtsbücher mit Titeln wie Die Kirche in den ersten Jahrhunderten oder Jesus in seiner Zeit, Die Araber in der Geschichte, Mohammed und Karl der Große, Bücher über die Inquisition, das Papsttum, Kunstbände, einige über Leonardo da Vinci. Aber die meisten Bücher dieser unterirdischen Bibliothek handelten von Esoterik, Geheimbünden und anderen okkulten Wissenschaften, was mir in Zusammenhang mit meinem Vater völlig abwegig vorkam. Hier waren alle berühmten Schriften für den perfekten kleinen Okkultisten versammelt. Kabbala, Freimaurerei, Templer, Katharer, Alchimie, Mythologie, der Stein der Weisen, Symbolik – alles Dinge, die mein Vater verabscheut hatte, zumindest war das der Eindruck, den er als atheistischer Kartesianer immer auf mich gemacht hatte.
Aber auch kein Dumas, kein Jules Verne, keines der Bücher, die einst der Stolz und die Freude meines Vaters gewesen waren. Was hatte ihn dazu bewogen, seine Balzac-Gesamtausgabe
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