Das Jesuskomplott. Thriller (German Edition)
an die sich die Künstler hielten.»
In diesem Punkt musste Engel dem Franzosen recht geben, der sich jetzt langsam wieder auf historisch gesichertem Boden bewegte.
942 gelang es Kaiser Romano Lakapenos, das Bild nach Konstantinopel zu bringen. Es wurde in der Pharos-Kapelle ausgestellt. Im 11. Jahrhundert wurde das Geheimnis gelüftet, dass es sich um ein komplettes Leinentuch handelte. Vielleicht war es beschädigt, und man nahm es zur Ausbesserung aus dem Rahmen. Hundert Jahre später wird das Tuch in einer päpstlichen Rede erwähnt. 1147 sah Everard de Barres, Großmeister der Templer, das Tuch und war beeindruckt. Während des vierten Kreuzzugs 1203 taucht das Tuch in Konstantinopel auf und verschwindet danach wieder in der Versenkung. Auf jeden Fall kam es in die Hände der Templer.
Latour erhob die Stimme, um die schwindende Aufmerksamkeit seiner Mitreisenden erneut zu gewinnen.
«Und da wird es jetzt spannend. Die Templer hatten genau wie die Katharer ihr eigenes Jesusbild. Für sie war er ganz menschlich und nicht göttlich, sie lehnten die inzwischen uneingeschränkt vorherrschende paulinische Doktrin ab. Folgerichtig beteten sie nicht das Kreuz an, sondern ...».
Latour machte eine Pause und wartete, ob jemand die Antwort wusste. Als sich niemand zu Wort meldete, schaute er Engel direkt fragend an, dem nur übrig blieb zu antworten:
«Wir wissen aus Inquisitionsprotokollen, dass sie angeblich einen Kopf anbeteten.»
«Genau, Herr Kollege. Und was lehrt uns das? Das Tuch passte perfekt in die Glaubenswelt der Templer, sie sahen es als Beweis, dass Jesus ein Mensch war.»
Latour führte die weitere Geschichte des Tuchs nur kurz aus. Besonders hob er noch zwei Ereignisse hervor. 1532 sei das Tuch bei einem Brand schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, die Beschädigungen seien noch heute zu sehen.
«Und wissen Sie, was für mich das Interessanteste an der ganzen Geschichte ist? Die Kirche hat die Echtheit der Reliquie nie anerkannt. Im Gegenteil! Immer wieder wurde die öffentliche Ausstellung verboten. Die Menschen hat das nie interessiert. Sie beteten das Tuch zu allen Zeit an.»
Da trifft er einen wunden Punkt, dachte Engel. Abermillionen von Gegenständen, Knochen, Zähnen, Holzsplittern, Nägeln, Blutstropfen und so weiter verehrten gläubige Christen offiziell und mit dem Segen der Kirche als Reliquien. Die Verehrung solcher Überreste erleichtert den Menschen den Glauben, sie liefern einen direkten, greifbaren Zugang. Deshalb kommen sie in allen Religionen vor. In Kandy auf Sri Lanka bewahrt man einen Zahn Buddhas auf, und im indischen Kaschmir ein Barthaar Mohammeds. Keine Religion trieb den Reliquienkult aber so auf die Spitze wie das Christentum. Riesige Kathedralen ließ man errichten, um ihnen einen angemessenen Raum zu geben. Für die Dornenkrone die Sainte-Chapelle in Paris, für die Knochen des heiligen Jakobus die wunderbare Kathedrale in Santiago de Compostela, für die Heiligen Drei Könige den Kölner Dom. Alle diese Reliquien waren unbedeutend gegenüber der Abbildung des Herrn Jesus Christus. Warum erkannte man ausgerechnet die nicht an, während man bei Jesu Vorhaut, die ihm wie jedem Juden als Knabe abgeschnitten worden war, keine Bedenken hatte? Engel wollte die Frage stellen, als die Anschnallzeichen aufleuchteten und das Flugzeug zur Landung auf dem Flughafen von Rom ansetzte.
Jetzt stand die Gruppe in dieser beeindruckenden Halle und wartete seit fünf Minuten, zum Marchese vorgelassen zu werden. Engel wollte sich gerade über die verlorene Zeit beschweren, als eine große Flügeltür in der Stirnwand des Saales geöffnet wurde.
«Meine Herren, scusi, meine Dame und meine Herren, willkommen!»
Guglielmo Marchese di Marcobaldi war ein kleiner Mann, Engel schätzte ihn auf einen Meter fünfundsechzig. Sein Körper war schmächtig, sodass die Kleidung eher sackartig an ihm hing. Er trug eine ausgebeulte Kordhose, ein hellgraues Hemd sowie ein dunkelrotes, an den Ärmeln abgewetztes Samtjackett. Das einzige modische Accessoire war ein Halstuch, das er anstatt einer Krawatte um den Hals geschlungen hatte.
«Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, aber ich hatte noch ein wichtiges Telefonat mit einer Journalistin aus New York. Das Tuch ist gerade wieder ein großes Thema. Aber kommen Sie.»
Er wedelte in grotesker Weise mit den Armen und dirigierte die Wissenschaftler durch die Tür in einen weiteren saalartigen und ebenso spärlich möblierten Raum, den sie
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