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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Sterblichkeit beobachten.
     
    Tina Something: Ein paar Wochen später fragen die Polizisten mich wieder nach Wax. Wie es aussieht, ist noch ein Junge in einem gestohlenen Auto gestorben, diesmal in einem BMW 325i. Anscheinend ist ein Zeuge bereit, zu schwören, dass unmittelbar, nachdem der Wagen vom Dach eines achtstöckigen Parkhauses gestürzt und mit der Nase auf dem Beton gelandet ist, wobei der Junge auf dem Beifahrersitz ums Leben kam, dass also unmittelbar nach dem Aufprall Karl Waxman aus der zertrümmerten Windschutzscheibe geklettert und einfach wegspaziert ist.
    Und wieder habe ich den Polizisten gesagt, ich hätte nichts von ihm gehört.
     
    Neddy Nelson: Warum sollten die Historiker Mitleid mit der Menschheit haben? Mal ehrlich: Brechen wir in Tränen aus, wenn eine Blume verwelkt? Wenn eine Flasche Milch sauer wird? Und diese Historiker, die haben schon so viele Leute wegsterben sehen, dass ihr Mitleid, oder wie Sie es nennen wollen, schon reichlich abgenutzt sein dürfte, meinen Sie nicht?
     
    Tina Something: Als die Polizei das nächste Mal kam, behaupteten sie, sie hätten die Fingerabdrücke am Steuer des BMWs mit denen in Wax' Wohnung verglichen. Sie fragten rundheraus, ob ich ihn bei mir verstecken würde?
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: In sehr vielen Mythologien findet sich die Auffassung, dass ein Individuum wahre Macht nur erlangen kann, wenn es den Vater »tötet«. Möglich ist, dass dies durchaus nicht metaphorisch gemeint war. Die Hauptschwierigkeit dabei ist, in die Zeit vor der eigenen Geburt zu gelangen.
    Darauf folgt die physikalisch einfachere, emotional aber kniffligere Schwierigkeit, den eigenen Vater zu ermorden.
     
    Tina Something: Um Wax aufzuspüren, suchte ich im Telefonbuch nach seiner Mutter, Gloria Waxman, aber sie stand nicht drin. Ihr Mädchenname war Elrick, also habe ich die wenigen Elricks angerufen, die im Telefonbuch stehen. Einer sagt falsch verbunden. Als ich beim nächsten Versuch nach Gloria Elrick oder Waxman frage, legt eine ältere Dame einfach auf. Ungefähr zehnmal legt diese alte Dame auf, also fahre ich zu der im Telefonbuch angegebenen Adresse. Hinter der Wohnungstür sagt dieselbe Altedamenstimme, ich soll weggehen, aber das tue ich nicht.
    Ich klopfe und hämmere an die Tür und sage, ich weiß, dass Gloria und Wax da drin sind, und dass ich nur mit ihnen reden will.
    Erst als ich mit der Polizei drohe, schließt drinnen jemand die Wohnungstür auf. Ein alter Mann öffnet die Tür, nur einen Spalt, die Kette ist vorgelegt. Er sagt, ich soll gehen, sonst holt er selbst die Polizei. Er sagt, seine Tochter, Gloria Elrick, sei schon vor über zwanzig Jahren gestorben. Anscheinend war sie mit ihrem Freund in einem Auto zugange, und ein Irrer hat sie beide erschossen. Irgendein Fremder, ein junger Mann, ohne ersichtliches Motiv. Und der alte Mann knallt mir die Tür vor der Nase zu.
    Ich frage durch die Tür, wie der Freund geheißen hat. Und der alte Mann sagt: »Verschwinden Sie!«
    Ich schreie: »Sagen Sie mir nur seinen Namen!« Und der alte Mann sagt: »Anthony.« Er schreit durch die Tür: »Tony Waxman.« Er schreit: »Und jetzt verschwinden Sie!«
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Hat man jedoch die Reise hinter sich gebracht und die erwähnte Aufgabe erledigt, ist man unsterblich geworden und lebt ewig in einer Welt, in der alles und jeder welkt und stirbt, während man selbst immer mehr Wissen und Reichtum anhäuft und zum mächtigsten Herrscher der Welt wird - und zwar für alle Zeiten -, und das sollte den Aufwand doch wohl wert sein.
     
    Neddy Nelson: Was glauben denn Sie? Ein echter Historiker bringt Sie einfach so zum Spaß um, ist doch klar.
     
    Tina Something: Das letzte Mal, dass ich Wax gesehen habe, da war ich in einem Brautjungfernkleid unterwegs, um vielleicht noch in letzter Minute in ein Team aufgenommen zu werden, und plötzlich hält ein Rolls-Royce Silver Cloud neben mir. In Rosa und Weiß steht auf der Karosserie: »Frisch verheiratet«. Das Beifahrerfenster geht runter, und drinnen lehnt sich Wax vom Steuer rüber und sagt lächelnd: »Hey, Baby, steig ein ...«
    Ich frage: »Wo hast du gesteckt?« Und Wax sagt: »Ich hab's geschafft ...« »Was denn?«, frage ich.
     
    Neddy Nelson: Denn nach der »Ursprungseliminierung«, da gibt's dann diesen ziemlich langwierigen Prozess, den sie »Rückstände abbauen« oder so ähnlich nennen, was jede Spur ihres alten Ichs zum Verschwinden

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