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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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überall.
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms (

Historiker): In Afrika glauben die Leute nicht an die Zahnfee. Dafür haben sie die Zahnmaus. In Spanien: Ratoncito Perez. In Frankreich: La Bonne Petite Souris. Ein kleines Fabelwesen, eine Maus, die Zähne stiehlt und dafür ein wenig Kleingeld hinlegt. In manchen Kulturen muss der ausgefallene Zahn in einem Schlangen- oder Rattenbau versteckt werden, um zu verhindern, dass eine Hexe ihn findet und irgendetwas damit anstellt. In anderen Kulturen werfen Kinder den Zahn in ein loderndes Feuer und suchen später in der kalten Asche nach Münzen.
    Rant Casey hatte auch einmal an die Geschichten vom Weihnachtsmann, dem Osterhasen und der Zahnfee geglaubt, und jetzt erkannte er, dass diese Volkssagen mehr sind als bloße Geschichten, nette Bräuche, um Kinderherzen höher schlagen zu lassen. Sie üben Verhaltensweisen ein. Jeder dieser drei Bräuche verlangt von einem Kind, an das Unmögliche zu glauben, und zur Belohnung erhält es etwas geschenkt. Es handelt sich um Rituale, die dem Kind helfen sollen, Glauben und Hoffnung zu entwickeln. Das erste Ritual besteht darin, an eine Märchenfigur zu glauben, und zur Belohnung gibt es Spielzeug. Das zweite Ritual besteht darin, an ein Fabeltier zu glauben, und zur Belohnung gibt es Süßigkeiten. Das letzte Ritual ist am schwierigsten, und als Belohnung winkt etwas sehr Abstraktes: Man soll daran glauben, dass einem eine fliegende Fee Geld bringt.
    Von einem Menschen zu einem Tier zu einer Fee.
    Von Spielzeug zu Süßigkeiten zu Geld. Schon interessant, wie sich die Magie des Glaubens von einer ätherischen Fee auf schmutziges, abgegriffenes Kleingeld übertragen lässt.
    Auf diese Weise wird ein Kind im Laufe seines jungen Lebens Stück für Stück zu größeren Leistungen des Glaubens und Hoffens angespornt. Es beginnt in den ersten Jahren mit dem Weihnachtsmann und endet in der fünften Klasse mit der Zahnfee. Oder, anders formuliert, es beginnt mit dem großen Versprechen der Kindheit, dass alles möglich ist, und endet mit dem unerschütterlichen Glauben an die Landeswährung.
     
    Shot Dunyun: Apropos frustrierend. Dieser ganze Wahn, diese ewige Pseudo-Realität: Ein Goldstück so viel wert wie ein Bonbon. Zucker so viel wert wie ein Goldstück. Nudeln gleich Hirn, und Erwachsene, die schwören, die Zahnfee gibt es wirklich. Oder die Tatsache, dass eine idiotische Märchenfigur wie der Weihnachtsmann für den halben Jahresumsatz im Einzelhandel verantwortlich ist. Dass ein frei erfundener Fettsack allen Ernstes ein entscheidender Motor unserer Volkswirtschaft ist. Wenn einen da nicht der Frust packen soll!
    Auch wenn er damals noch zu klein war, um das alles so zu durchschauen: der kleine Rant Casey wollte an diesem Abend etwas Echtes. Selbst wenn es sich bei diesem Echten um stinkendes Blut und Gedärme handelte.
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Bräuche dienen seit jeher der kognitiven Entwicklung des Menschen, und besonders für Kinder stellen sie eine Anregung dar zur gesteigerten Wahrnehmung. Ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Eltern sich dieser Funktion nicht bewusst sind, praktizieren sie die Bräuche nach wie vor.
    Rant erkannte aber auch, dass die Überwindung der Illusion ein entscheidender Schritt ist, um eine wichtige Fähigkeit zu entwickeln.
    Ein Kind, dem nie die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählt wurde, entwickelt womöglich keine Phantasie. Für ein solches Kind existiert nur das Buchstäbliche, das Greifbare.
    Ein Kind, das von Freunden und Geschwistern ausgelacht wird, weil es noch an den Weihnachtsmann glaubt, weigert sich womöglich, je wieder an irgendetwas zu glauben - und sei es etwas Greifbares.
    Ein Kind jedoch, das die Illusion - vom Weihnachtsmann, vom Osterhasen, von der Zahnfee - selbst überwindet, ein solches Kind dürfte etwas sehr Entscheidendes lernen. Ein solches Kind weiß um die Macht des Glaubens, um die Macht der Phantasie. Und es wird dieses Wissen nutzen, sich seine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Es wird fortan selbst über die Illusion gebieten. Selbst die Bedingungen seiner Welt bestimmen. Und indem es das tut, bestimmt es auch die Welt der beiden anderen Typen von Menschen: derer, die keine Phantasie haben, und derer, die an nichts glauben können.
     
    Pfarrer Curtis Dean Fields: Egal wie gut man einen Holzfußboden versiegelt, ob mit Wachs oder Lack, er nimmt doch Gerüche an. Die Zedernholzbretter im Gemeindesaal rochen

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