Das Kainsmal

Aufzeichnungen von Green Taylor Simms

Historiker): Nasonov-Pheromon. Eine Plastikphiole, nicht größer als ein kleiner Finger, verströmt so viel Bienenlockstoff wie fünftausend Honigbienen auf einmal. Apis mellifera, die gemeine Honigbiene, folgt dem Geruch und dringt in jede sich bietende Öffnung ein, um einen neuen Stock zu bauen.
    Schlägt man nach diesen Bienen, sondern sie das »Alarm«-Pheromon aus, das weitere Bienen zum Angriff heranlockt. Da ihr Hauptfeind der Bär ist, konzentrieren sich die angreifenden Bienen auf Augen, Nase und Mund des Aggressors - alles, was als dunkle Öffnung erscheint, auch die Ohren, zieht die Bienen massenhaft an. Das vom Opfer ausgeatmete Kohlendioxid macht die angreifenden Bienen noch aggressiver.
    Der Lockstoff selbst hat einen angenehmen Zitronengeruch, freilich so schwach, dass der Mensch ihn kaum wahrnimmt. Das Nasonov-Pheromon ist so stark, dass man die Plastikphiole am besten in einem fest verschlossenen Glasbehälter aufbewahrt und diesen tiefkühlt.
     
    Symon Praeger (

Party-Crasher): Das war wie eine Wolke, die sich vor die Sonne schiebt, eine große schwarze Gewitterwolke. Und das Summen. Als ob es mitten an einem schönen Sommertag plötzlich zu regnen anfängt. Aber statt Wasser regnet es Insektenstiche. Ohne Scheiß. Ein Wolkenbruch aus Schmerzen.
     
    Echo Lawrence: Die Leute rannten zu ihren Autos, schreiend, so dass ihnen die Bienen in den Mund flogen. Und die Bienen in ihrem Mund stachen zu, und die Leute erstickten. Als die Seuchenpolizei eintraf, war Rants Onkel Clem schon tot. Seine Tante Patty und sein Onkel Cleatus auch. Sein Onkel Walt starb im Krankenhaus.
     
    Shot Dunyun: Die Sackgesichter vom FBI, die nach Rants Tod nach unseren Crash-Partys fragten, die Idioten fanden die Bienengeschichte klasse. Die konnten sich gar nicht genug Notizen machen.
     
    Echo Lawrence: Immer mit der Ruhe. Kein Mensch hat von Mord gesprochen. Noch nicht.
     
    Shot Dunyun: Schon seltsam. Das war wie im Alten Testament: das Mörderbienenpicknick, die Mäusescheißattacke, die Fliegenplage, der Giftspinnenhut. Beim nächsten Erntedank -es waren inzwischen sieben der Älteren tot - blieb der Rest dieser Generation zu Hause. Die ältesten Caseys überließen den Erwachsenentisch ihren schon längst erwachsenen Kindern. Ende der Belagerung. Schichtwechsel.

12
Das Essen
     
    Echo Lawrence (

Party-Crasher): Es geht darum, die Zeit stillstehen zu lassen. Was Sand-Mandalas für buddhistische Mönche und Stickarbeiten für Irene Casey sind, das war Mösenlecken für Rant. Dauernd klemmte er sein Gesicht zwischen meine Beine und schob mir die Zunge rein. Dann stützte er sich auf die Ellbogen, schmatzte mit den Lippen und sagte mit triefendem Kinn: »Du hast zum Frühstück was mit Zimt gegessen ...«Er leckte sich die Lippen und verdrehte die Augen und sagte: »Nicht Arme Ritter ... was anderes.« Rant schnaubte und mampfte und kam mit glänzenden Augen wieder hoch und sagte: »Du hast zum Frühstück eine Tasse Constant-Comment-Tee getrunken. Daher der Zimtgeschmack.«
    Allein durch Schmecken und Riechen konnte er meinen ganzen Tag rekonstruieren: Tee, Vollkornweizentoast ohne Butterjoghurt, Blaubeeren, ein Tempeh-Sandwich, eine Avocado, ein Glas Orangensaft und ein Rote-Beete-Salat.
    »Und eine Portion Zwiebelringe. Gebraten«, sagte er und schmatzte mit den Lippen. »Eine große Portion.«
    Ich nannte ihn »das Mösenmedium«.
     
    Bodie Carlyle (

Freund aus Kindertagen): In der Zeit, in der andere Leute sich an einem Tisch niederlassen, ein Gebet sprechen, sich etwas auf den Teller tun und aufessen, noch einmal nachnehmen, dann Kuchen und Kaffee vertilgen, eine weitere Tasse Kaffee trinken und schließlich das Geschirr abräumen, in derselben Zeit schaffte die Casey-Familie vielleicht einen einzigen Bissen. Einen Happen vom Hackbraten oder Thunfischauflauf, auf dem sie ewig herumkauten. Und dabei wurde auch nicht geredet, sie lasen beim Essen weder Bücher noch sahen sie fern. Ihre Aufmerksamkeit galt voll und ganz ihrem Mund: kauen, schmecken, fühlen.
     
    Echo Lawrence: Ist doch wahr. Die meisten Jungen führen Buch darüber, was sie mit ihrer Zunge anstellen. Die haken ab. Jedesmal wenn sie zum Luftholen auftauchen, sehen sie nach, wie weit du schon bist. Und mit jedem Lecken weißt du, dass sie dafür eine entsprechende Entschädigung erwarten. Du kannst dich überhaupt nicht richtig entspannen und abheben, wenn da so ein Buchhalter am Werk ist. Jedes Lecken ist