Das Kainsmal
Eheschließung immer wieder auswich, wenn intime Dinge besprochen werden sollten. Ich erklärte mir ihre Scheu damit, dass Irene bereits hochschwanger war. Ein Vortrag über Empfängnisverhütung kam da tatsächlich ein wenig spät.
Aber ob es nun an der Schwangerschaft lag oder nicht, ich habe jedenfalls noch nie ein junges Paar erlebt, das so wenig verliebt schien. Um nur ein Beispiel zu geben: Als ich Chester bei der Hochzeit sagte, er könne die Braut jetzt küssen, gab er Irene einen Kuss auf die Wange.
Dr. David Schmidt: Unsere große Befürchtung war, dass Chester Casey die dreizehnjährige Irene Shelby vergewaltigt haben könnte und dass die Schwangerschaft sie zwang, den Mann zu heiraten, der sie missbraucht hatte. In Kleinstädten kommt es immer wieder zu Tragödien dieser Art: Junge Leute begehen einen Fehler und büßen dafür ihr ganzes Leben.
Ruby Elliot: Über der Familie Shelby hat schon immer ein Unstern gewaltet, jedenfalls über den weiblichen Familienmitgliedern. Irenes Ururgroßmutter war vergewaltigt worden. Ebenso ihre Uroma, Bei Shelby, mit dreizehn oder vierzehn Jahren, auf dem Heimweg von der Schule. Von einem Durchreisenden. Kein Sheriff hat den Täter jemals gefasst, aber Bei Shelby wurde schwanger, und dieses uneheliche Kind war Irenes Großmutter Hattie. Die Frauen in Irenes Familie werden vom Unglück verfolgt.
Basin Carlyle (
Nachbarin aus der Kindheit): Dass ich nicht lache. Von wegen Vergewaltigung! Da herrschten einfach lose Sitten. Die Shelby-Frauen haben sich schon immer rumgetrieben. Die haben unter keinem Fluch gelitten, höchstens unter dem Fluch der Hurerei.
Ruby Elliot: Und kaum war Hattie Shelby dreizehn geworden, geschah es schon wieder. Wieder ein Fremder, wieder ein Kind. Und dieses Kind war Esther, Irenes Mama.
Edna Perry (
Nachbarin aus der Kindheit): Die Leute in Middleton sprachen noch vom »Shelby-Haus«, als da längst Chet Casey die Regie übernommen hatte. Jahrzehntelang hatte sich in dem Haus alles um die Frauen gedreht, Bei, Hattie, Esther. Und angeblich ist die kleine Esther genau an ihrem dreizehnten Geburtstag schwanger geworden. Dieses Kind war dann Irene.
Ruby Elliot: Bei so einer Vorgeschichte kann man Glenda Hendersen und mir keinen Vorwurf machen, dass wir das Schlimmste befürchteten, als Irene ins neunte Schuljahr kam. Wir begleiteten sie überall hin, ließen unsere beste Freundin keine Sekunde aus den Augen. Und wenn wir nicht auf Irene aufpassten, waren ja auch noch ihre Ma und ihre Großmutter da. Sicher, das muss der kleinen Irene schon auf die Nerven gegangen sein, so bemuttert zu werden. Vielleicht hat gerade diese übertriebene Aufmerksamkeit sie dazu gebracht, sich heimlich davonzuschleichen. Nur um mal ungestört am Fluss spazieren zu gehen, durch die Bäume am Fluss, ganz allein.
Sheriff Bacon Carlyle (
Feind aus Kindertagen): Bei den vielen wild herumstreunenden Hunden ist es glatter Selbstmord, allein in diesen Wäldern herumzulaufen. Bei einem kleinen Mädchen wie Irene muss man da schon von einem selbstmörderischen Akt sprechen.
Ruby Elliot: Höchstwahrscheinlich wollte Irene ihr Leben einfach nicht nur hinter verschlossenen Türen und unter ständiger Aufsicht ihrer Freundinnen verbringen.
Basin Carlyle: Irene Shelby schlich sich häufig davon. Und irgendwann wurde sie geschwängert. Und dann heiratete sie Chester. Was soll daran geheimnisvoll sein? Ist doch komplett verrückt, zu behaupten, dass vier Generationen einer Familie immer von demselben Vergewaltiger heimgesucht wurden. Da kann ich ja nur lachen.
Curtis Dean Fields: Trotzdem, ich habe noch wie ein Kind gesehen, das seinem Vater so ähnlich war. Jeder, der Buster und Chester Casey sieht, würde schwören, dass das Zwillinge sind.
Das heißt - wenn sie nicht zwei verschiedenen Generationen angehören würden.
Glenda Hendersen: Zugegeben, Chet war ein paar Jahre älter als Irene. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass sie vor anderen Leuten nie herumgeturtelt haben. Man hat sie nicht mal Händchen halten sehen. Aber sie schienen einander doch sehr gemocht zu haben, bis Chet in diesen Flieger stieg, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Irene Casey (
Rants Mutter): Sie fragen, ob ich vergewaltigt wurde? Von einem Fremden, der mein Vater hätte sein können, mein Großvater, mein Urgroßvater? Was soll diese schreckliche Unterstellung?
Ich weiß es nicht. Ich hab's vergessen. Ich kann mich nicht
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