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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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an die entsprechenden Haken an der Lagerraumwand gehängt werden müssten. Ich könne meinen Mantel gleich anlassen, dort unten gebe es ja keine Heizung.
    Das Licht im Keller war schrecklich schummrig. Fast wäre ich auf der steilen Kellertreppe ausgerutscht. Ich konnte meinen Atem sehen, wenn ich ihn in Richtung der nackten Glühbirne blies, und nach einer Weile, die ich in die muffigen, eingerissenen und vollgestaubten Kartons gegriffen hatte, dick ineinandergeknäulte Pakete verschiedenster Kabelsorten herausgeholt und Stück für Stück auseinandergefriemelt hatte, wurden mir zuerst die Fingerspitzen und später die ganzen Hände taub, sodass ich sie immer wieder in meine Manteltaschen stecken musste und für einige Minuten in dem schmalen, niedrigen Lagerraum auf und ab gehen, bis das Gefühl in sie zurückgekehrt war und ich weiterarbeiten konnte. Es gab ein kleines Kellerfenster, aus dem ein Stück Glas herausgebrochen war. Von außen war es aber vollkommen eingeschneit, es fiel kein Licht in den Raum, nur hin und wieder rieselte durch das Loch etwas Schnee, auf Schachteln und Verpackungsmaterial, das dort seit Jahrzehnten an die Wand gestapelt stand und unter staubgrauen Spinnwebteppichen zu einem einzigen, nutzlosen, raumfressenden Haufen zusammengewachsen war.
    Ich verlor in dem Kellerraum völlig das mir verbliebene Gefühl für die Zeit, trat irgendwann über in einen weitestgehend gedankenlosen Zustand, in dem ich nur noch die später von mir säuberlich und systematisch geordneten Kabel hübsch aufgerollt an der Wand hängen sah und arbeitete ohne Pause oder das Bewusstsein für eine außerhalb dieses Kellers existierende Welt.
    Als ich wieder hoch in den Laden kam, hatte Herr Letterau bereits die Abrechnung für den Tag gemacht, in seine Bücher eingetragen und die Kasse verschlossen, und als ich ihm sagte, dass ich doch noch verschiedene Dinge für Richard zu besorgen hatte, gab er sich sehr großzügig, sagte: Nehmen Sie einfach mit, was Sie brauchen. Ich schreibe es auf und werde es mit Ihrem Lohn verrechnen. Morgen früh, meinte er, wäre es schön, wenn Sie pünktlich kommen könnten. Es sei reichlich Arbeit angefallen in der letzten Zeit.
    Als ich dann mit den Besorgungen für Richard aus dem Laden heraustrete und in die Kälte auf der Promenade, ist längst schon die Nacht über den Ort hereingebrochen. Die Straßenbeleuchtung ist in Betrieb und verteilt gelbliches Licht über die weißen Flächen. Hinten am Hafen sehe ich den schwarzen Umriss des Wachturms in den dunkelblauen Himmel ragen.
    Ich schaue kurz in alle Richtungen, ob Richard nicht vielleicht doch noch irgendwo zwischen den Bänken herumspringt, weiß aber eigentlich schon, dass er es längst aufgegeben hat, auf mich zu warten und nach Hause gegangen ist.
    Im Haus meiner Eltern, als ich mich herunterbeuge, um meine Schuhe auszuziehen, fährt mir wieder der Schmerz in den Rücken. Ich hänge meinen Mantel an den Haken, werfe einen Blick ins Wohnzimmer, in dem immerhin ein Feuer im Ofen brennt, was ich als freundschaftliches Zeichen werte, nehme Richards Arbeitsmaterial und gehe hoch in den ersten Stock.
    Seine Zimmertür ist geschlossen. Ein feiner Lichtstreifen ist darunter zu sehen. Ich stehe eine Weile mit meinem schmerzenden Rücken vor der Tür und überlege, ob ich anklopfen will, ob ich darf oder kann. Dann lege ich die Sachen einfach vor seine Tür, gehe zurück ins Wohnzimmer und schlafe sehr bald auf der Couch ein, ohne Hunger oder Gedanken.
    Obwohl es ihn anfangs bestimmt sehr geärgert hat und er mit Sicherheit zunächst einmal verschiedene Möglichkeiten abgewägt haben musste, wie er sich, seine Frau und sein Schiff wieder fortbekommen könnte, fügte sich Kapitän George Wellington Streeter, dessen frisch auf den Namen Reutan getauftes Schiff kurz vor der Küste Chicagos im Michigansee auf eine Sandbank aufgelaufen war, sehr schnell in sein Schicksal. Da zu dieser Zeit die Grenzen des Landes an den Küstenlinien der Großen Seen verliefen, die Seen selbst also Niemandsland waren, beschloss Kapitän Streeter einen neuen Staat auszurufen, bestehend aus seinem unbeweglichen Schiff und dem seichten Wasser, das es umgab. Er wartete geduldig ab, bis die Baufirmen und städtischen Betriebe so viel von dem Schutt, der Asche, der verbrannten Erde und dem Geröll, das seit dem Großbrand in den Straßen von Chicago aufgehäuft lag, in den See geschaufelt haben würden, dass ein künsticher Landweg die festsitzende Reutan mit der

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