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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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Sullivan außerdem vorgenommen, in seinen letzten Lebensjahren nochmal die schönsten oder die wichtigsten Ornamente, die seinen ihm ganz eigenen Stil repräsentierten, aufzuzeichnen und zusammenzustellen, auf dass diese ebenfalls im Journal der Amerikanischen Architekten veröffentlicht werden konnten.
    Es gibt, sage ich zu Richard, einen Band, in dem die ganze Lebensgeschichte und die Zeichnungen der Ornamente abgedruckt sind und außerdem, ganz hinten im Buch, ein Bild von Sullivan selbst, wirklich unmittelbar vor seinem Tod, das der Zeichner Theodore J. Keane gezeichnet und dem Journal zur Verfügung gestellt hat.
    Weil ihm zum Ende hin merklich die Zeit ausgegangen ist und weil er das bestimmt auch gemerkt hat, sind die Ornamente, die man sich in dem Buch ansehen kann, meistens nur zur Hälfte ausgestaltet. Auf einer Seite sieht man bereits alle Details und Verzierungen, bis in die kleinsten Verästelungen ausgearbeitet, auf der anderen aber meistens nur ein paar angedeutete Striche, Zahlen und Anmerkungen, wahrscheinlich die Größe oder die Beschaffenheit des Materials betreffend. Ein bisschen, finde ich, sieht es dadurch so aus, als würde es den fließenden Übergang wiedergeben von einer Idee zu einem fertigen Produkt, und bei dem Portrait von Keane, sage ich zu Richard, das ist das Verrückte, ist es ganz genauso. Da ist nämlich nur der Kopf von Sullivan sorgfältig ausgearbeitet, der ganze restliche Körper eine Andeutung aus Bleistiftstrichen. Und es ist, sage ich, schließlich, wenn man beides in einem Buch zusammen sich anschauen kann, die Ornamente und das Portrait, gar nicht so, dass man sich denkt, man schaut da auf etwas Unfertiges, einmal Begonnenes und nie Zuendegebrachtes.
    Nicht nur Sullivan selbst, sondern auch seine Arbeit, über die er ein finales Zeugnis ablegen wollte, scheinen vielmehr in einer Art Auflösung begriffen zu sein. In einer Bewegung hin zum Schemenhaften, zurück zur Idee eines Körpers, zur vagen Andeutung, als wäre dem steigenden Alter nicht ständig an der Ausformung und Definition der Dinge und Menschen gelegen, sondern als führe es schließlich zurück zum ursprünglichen Vorhandensein aller erdenklichen Möglichkeiten.
    Es gibt das Buch, von dem ich da spreche, im Haus meiner Eltern. Und das war ein großer, vielleicht der größte meiner Kniffe, seit ich angefangen hatte, Richard abends Geschichten aus der Welt zu erzählen, wie ich sie sah. Dass ich ihm hier direkt unter die Nase halten konnte, wovon die Rede gewesen war. Ich dachte wieder an die Luftaufnahme, die ich in den Ofen geworfen hatte, an seine Begeisterung damals.
    Mein Vater hatte das Buch einmal angeschafft, und ich konnte also auf eine geheimnisvolle, unerträgliche Spannung vertrauen, bedeutungsvoll aufstehen und zum Bücherregal im Wohnzimmer gehen, den Band holen und Richard vor seinen eigenen Augen aufblättern, was ich ihn gezwungen hatte, sich vorzustellen. Um ein für alle Mal auch die Integrität dessen, was er hier täglich von mir zu hören bekam, zu beweisen.
    Richard sieht sich eine Weile die Bilder an, ohne sehr beeindruckt auf mich zu wirken, schaut dann irgendwann auf und in mein Gesicht und fragt mich, ob ich denn selbst auch einmal dort gewesen war. In Chicago oder Samoa, selbst gesehen habe, wie es dort aussieht, und ich musste ihm wahrheitsgemäß antworten und sagen: Nein.
    Davon werde ich, ganz gegen meinen Willen und meine eigene Selbsteinschätzung, sofort stark gekränkt und bin kurz davor zu sagen: Du warst doch selbst noch nirgends! Du musst mir schon glauben!
    Das gegenseitige Misstrauen hat da vielleicht seinen Anfang genommen.

Es war kein freiwillig von mir gefasster Entschluss, die Arbeit in dem Elektrofachmarkt an der Strandpromenade wiederaufzunehmen. Ich würde sogar sagen, die Entscheidung hierfür wurde über mich verhängt.
    Wir brauchten schon sehr bald Geld, weil ich ja das wenige, was noch auf meinem Konto übrig geblieben war, größtenteils schon auf dem Weg ans Meer ausgegeben und den Rest dann recht schnell in unsere Versorgung investiert hatte.
    Ich war durch den Ort gelaufen, auf der Suche nach offen ausgeschilderten Arbeitsplätzen, hatte kostenlose Zeitungen im Supermarkt studiert, musste dabei aber feststellen, dass sich die Bewohner mittlerweile ganz auf ihre raunende, vertrauliche Kommunikation beschränkt hatten und nicht mal mehr ihre alten Fahrräder in den kostenlosen Wochenzeitungen annoncierten. Lediglich ein paar Gesuche nach menschlicher

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