Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
Vom Netzwerk:
Stadt verband.
    Das Land und die neuen Ufer aus zerstörter Stadt wuchsen immer weiter in den See hinein, lagen schlammig und unbebaut da und wurden nun von Streeter umgehend als Baugrund ausgewiesen und an Investoren und Siedler verkauft.
    George Wellington Streeter, erzähle ich Richard, war lange Zeit als Holzarbeiter angestellt, er betrieb einen Kuriositäten- und Gruselzirkus, meldete sich freiwillig zum Bürgerkrieg und kämpfte für die Unionsarmee in Tennessee, bevor er sich schließlich selbst zu Wasser ließ und auf den großen Seen und Flüssen des Landes umherfuhr. Etwa zur selben Zeit, als sich die Explosion inmitten der protestierenden Arbeiter ereignete, in deren Folge Louis Link und einige andere festgenommen und verurteilt wurden, erreichte er auf diese Weise die Stadt Chicago, heiratete seine Frau Maria und gemeinsam fassten sie den Entschluss, auf dem Wasserweg, über die Seen Huron, Erie und Ontario, den Sankt Lorenz Strom und den Atlantischen Ozean nach Honduras auszuwandern, um dort gemeinsam in den frisch aufblühenden Waffenhandel einzusteigen. Sie unternahmen eine gemeinsame Testfahrt mit der neu angeschafften Reutan , blieben auf der Sandbank vor der Küste stecken und verbrachten, und das erzähle ich Richard ohne eigentliche Absicht in einem sehr sakralen Tonfall, den Rest ihres Lebens damit, dieses Land, das sie gleich als ihr eigenes ausgerufen hatten, gegen äußere Angriffe zu verteidigen.
    George und Mary Streeter bauten das Schiff zu einem zweistöckigen Wohnhaus um, in dem sie den folgenden Winter und weitere auf diesen Winter folgende Jahre verbrachten, tagsüber und an den Abenden auf die neblige Landschaft hinausspähend, mit Schweineborstengewehren oder Schrotflinten bewaffnet, manchmal mit einem Kübel Heißwasser, um die immer wieder von der Stadt her kommenden Anwälte und Polizisten zu verjagen, die ihre Landnahme als unrechtmäßig eingestuft hatten.
    Sie mussten dabei, sage ich zu Richard, die Gestalten, die sich in der trüben, wattmeerartigen Landschaft bewegten, schon aus weiter Entfernung gut einzuschätzen gelernt haben, denn schließlich kamen viele aus der Stadt in das umgebaute und von Streeter bald das Castle getaufte Schiff, um dort Schnaps zu trinken oder illegal um große Geldbeträge zu würfeln.
    Die Stadt wuchs langsam über diesen rechtsfreien Grenzbereich hinaus und hat sich schließlich am Ende auch Streeters Castle einverleibt. Für ein paar Jahre aber war auf der verkohlten Masse der niedergebrannten Stadt ein rechtsfreier Raum entstanden. Eine kleine Gesellschaft, die ihre eigenen Regeln befolgte und die, das habe ich mir immer vorgestellt, sage ich Richard, an sehr stark dunstverhangenen Tagen, wo von der nahen Großstadt vielleicht nur die Schemen zu sehen waren oder nichts, wo man sich also nicht mehr sicher sein konnte, ob sie noch da war oder vielleicht nur von der eigenen Vorstellung auf das flächig um einen herum aufgezogene Weiß aufgemalt, zumindest für einen Moment lang überzeugt sein konnte, tatsächlich unabhängig zu sein.
    Am 14. November 1915 parkten zwei Mannschaftswagen der Polizei, ein Krankentransport und ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr in einiger Distanz zu Streeters Castle, zwei Polizisten in Zivilkleidung näherten sich zuerst, wurden eingelassen und bestellten sich jeweils ein Bier, um für Ablenkung zu sorgen. Fünfunddreißig bewaffnete Polizisten stürmten daraufhin das hölzerne Schloss, es wurden ein paar Schüsse abgegeben, dabei aber niemand, versichere ich Richard, ernstlich verletzt. Man verhaftete George und Mary Streeter und alle Anwesenden. Der junge Harry de Carmaker, der in Streeters Castle gelebt hat zu dieser Zeit, wurde beinah übersehen, dann aber doch noch im Kühlraum aufgefunden, mit einem Gewehr in der Hand auf den Bierbeständen sitzend, offensichtlich mit dem Auftrag versehen, diese zu bewachen. Er konnte ohne Gegenwehr verhaftet werden. Es war ihm in der Zwischenzeit zum Kampf einfach zu kalt geworden.

Abb. 14

Richard ist noch nicht aufgestanden, als ich mich am Morgen meines ersten langen Arbeitstages auf den Weg zum Elektrofachmarkt mache. Ich gehe noch kurz hoch ins obere Stockwerk und sehe, dass er die Sachen, die ich vor seiner Tür abgelegt hatte, schon bemerkt und zu sich ins Zimmer geholt hat.
    Die Schmerzen in meinem Rücken haben über Nacht nachgelassen, durch das ständige Schlafen auf der Couch konnte ich sie aber auch später nie ganz auskurieren und ich fürchte mich an diesem Morgen

Weitere Kostenlose Bücher