Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Tölpel, Mikesh, Sheela, Wutz, Perle, Krumpel, Bodo, Schnuffel, Tapsi, Ede, Gutzl, bei Interesse, da bin ich mir sicher, wäre das eh nochmal Verhandlungssache.
Vom Sofa aus beobachte ich Richard, der am Esstisch sitzt, bei künstlichem Licht in schlechter Haltung und in einer alten Illustrierten blättert. Die Kreuzworträtsel und Sudokukästchen hat er mit Strichen und kleinen Formen vollgemalt. Draußen singt es und stürmt in der Dunkelheit.
Ich komme an den Tisch, schaue über seine Schulter und lese eine Rätselfrage, die lautet: Auf einer schneebedeckten Scheibe, die sich beständig im Kreis dreht, geht einer immer geradeaus. Welches Muster ergeben seine Fußspuren?
Ich kann mir Richard sehr gut als alten Mann vorstellen, der sich für nichts mehr interessiert außer der Handarbeit. Alles dazwischen fällt mir schwer.
Wir stehen auf, weil wir ein leises, rhythmisches Quietschen auf der Straße hören, legen unsere Hände neben die Gesichter an die Scheibe, schauen raus und einer einzelnen Person zu, die mit viel Mühe ein Fahrrad durch den Wind und den tiefen Schnee schiebt.
Richard sagt: Ich muss jetzt ins Bett gehen. Und er geht, und ich bleibe im Wohnzimmer. Es gefällt mir nicht, wenn er sich vor mir schlafen legt. Ich habe dann die sehr deutliche Empfindung, das letzte Wesen mit einem Bewusstsein im Haus zu sein. Und die irrationale Angst, das Haus und der ganze Küstenstreifen, auf dem es steht, würden wegbrechen und in die schwarze See hinaustreiben, sobald ich einschlafe.
An einem Samstagmorgen sitzen wir gemeinsam am Esstisch und sprühen Schlagsahne in unseren Kaffee, weil es keine Milch mehr gibt. Richard baumelt mit den Beinen und knackt mit den Gelenken. Morgens spricht er nicht gern und hört auch nicht gern zu. Das Erzählen ist eine Sache für den Abend. Die Gesellschafts- und Brettspiele im Haus sind sämtlich für Erwachsene oder ältere Jugendliche, es gibt kein Kinderspielzeug, aber ich hatte eh nie das Gefühl, als würde er sich dafür interessieren. Er baut eben viel an seinen Werkstücken, oben in seinem Zimmer oder hier unten, wenn ich bei der Arbeit bin.
Ich habe Richard nie gefragt, aber es kam mir oft so vor, als sei das Wochenende etwas Lästiges für ihn, weil ich dann nicht zu Letterau arbeiten gehe und den ganzen Tag Zeit habe. An meinen freien Tagen fällt mir auf, dass er fast genauso lange braucht wie ich, um wirklich richtig aufzuwachen. Es ist ja immer nur so kurz hell und nie richtig und oft treibt man die ersten paar Stunden auf einer dumpfen Müdigkeit dahin, dann setzt bald schon die Dämmerung ein, die Nacht, die Heizungsluft, die Kälte draußen, immer kann man sich sehr gut einen weichen Ort vorstellen, nur kurz die Augen schließen, an einen langen Schlaf ist eh nicht zu denken. Nachts rüttelt immer irgendwo der Wind, eine Autotüre wird zugeschlagen, ein Rollladen heruntergelassen, eine Schneelawine geht ab von einem Hausdach, ein Carport, auf dem sich monatelang der Schnee getürmt hat, stürzt schließlich ein unter der Last, selten bellt ein Hund. Alles ist für einen kurzen Moment ganz deutlich hörbar und versiegt dann im Schnee. Die Geräusche sind immer unmittelbar, immer direkt am Ohr, nirgendwo hallt etwas wider. Als gäbe es keinen Raum mehr für sie.
Wie Richard schläft, kann ich nicht sagen, wie oft, wie lang, wie gut. Morgens ist er still und manchmal schlecht gelaunt. Zu jeder Tageszeit ist es möglich, dass er von oben ins Wohnzimmer kommt und sich die Augen reibt, als sei er gerade aufgewacht. Selten kommt es vor, dass wir einfach nur nebeneinander auf der Couch sitzen, und er vielleicht seinen Kopf an meinem Arm ablegt und kurz die Augen zumacht. Dann immer denke ich ganz deutlich: Ich weiß, was ich hier zu tun habe. Aber er kommt auch wirklich sehr gut ohne mich aus.
Wir belegen uns still ein paar Brote, Richard hört sich aufmerksam das leise Klickern des Messers an, als ich ein Marmeladenglas auskratze, und ich schaue ihm lange dabei zu, wie er einen Apfel so zu schälen versucht, dass am Ende ein langer Schalenkringel übrig bleibt.
Manchmal gibt es etwas wie ein stummes Verständnis zwischen uns. Ich kann sehr gut vorhersagen, ob er nach dem Frühstück gern allein gelassen werden will. Wir räumen den Tisch ab und spülen das Geschirr, und dann entsteht kurz etwas wie eine angespannte Leere oder gemeinsames Warten, und wenn er dann nicht weggeht, kann ich ihm anbieten, mit mir vor die Tür zu gehen, und meistens geht er dann
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